Dies und das zum Kinderbuch 

Artikel für die Zeitschrift "unterwegs"
 

April 1996
 

"unterwegs" hat mich eingeladen, etwas über Kinderbücher zu schreiben. Danke schön. Die Redaktion hat auch einen Impulstext mitgeschickt. Da heißt es unter anderem: "Gibt es Kinderbücher, die nicht moralisieren und/oder konform sind - und werden in Kinderbüchern überhaupt mehr als nur die gängigen Muster gesellschaftlicher Gegebenheiten transportiert (VaterMutterKind, verliebtverlobtverheiratet)?
Und ist es nicht so, daß ähnlich tabuisiert wie im wirklichen Leben die Themen bleiben, die "randständig" sind: Behinderung und Homosexualität, um nur zwei davon zu nennen. Rufen die erwachsenen KinderbuchschreiberInnen mit der Verzweiflung des einsamen Kellergängers die Botschaft der Gewißheit ins Dunkel der Kindheit: alles bleibt, wie es ist, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute..."
Als Autor kann ich die Frage nach vorherrschenden Trends in der Kinderliteratur nicht wirklich beantworten, weil ich nicht so einen großen Überblick habe wie BuchhändlerInnen oder RezensentInnen. Von meiner sporadischen Kinderbuchlektüre scheint mir aber, daß die meisten "Denkrichtungen", die in der Gesellschaft vorhanden sind, auch im Kinderbuch vertreten sind. Besonders im Jugendbuch werden alle aktuellen "Probleme" - Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Behinderung, Homosexualität, sexueller Mißbrauch, Umweltfragen usw. ziemlich aktuell, oft eher journalistisch als künstlerisch, "behandelt". Unter den AutorInnen, würde ich sagen, sind "progressive" Anschauungen wohl häufiger vertreten als in der gesamten Gesellschaft. Unter den VerlegerInnen wohl auch (wenn auch nicht in dem Maß wie unter den AutorInnen). Nur sind es die kapitalkräftigsten Verlage mit den größten Auflagen, die auf das "problemlose" Buch setzen, das "einfach nur unterhalten" will. Das unproblematische Buch verkauft sich deshalb besser, weil es die Eltern nicht beunruhigt, nicht herausfordert, ihr Weltbild nicht in Frage stellt. Denn es sind ja die Eltern (Großeltern, Tanten und Onkel), die die Kinderbücher kaufen. Und es sind die Eltern, die ihr Weltbild an ihre Kinder weitergeben. Durch die Bücher, die sie ihnen kaufen genauso wie durch ihre bewußten Erziehungsakte und das ihnen meist unbewußte Vorbild, das sie den Kindern bieten.
Aber was hat das nun zu bedeuten? Kinderbücher zeigen die Welt so, wie KinderbuchautorInnen meinen, daß den Kindern die Welt gezeigt werden soll. Na klar, wie denn sonst. Und die Kinder wissen das natürlich. Sie vergleichen das, was sie lesen, mit der Welt, die sie kennen, mit dem, was in anderen Büchern steht, mit dem, was sie im Fernsehen sehen. Sie vergleichen das, was sie aus Kindermedien erfahren, mit dem, was Erwachsenenmedien den Erwachsenen erzählen. Sie spüren die Ungereimtheiten und Lügen auf. Sie schaffen sich ihr eigenes Weltbild. So gut sie halt können.
Es ist also sicher nicht so, daß schlechte Kinderbücher den Kindern ein falsches Weltbild vermitteln, gute Kinderbücher ein richtiges. Der ganze Vorgang ist viel komplexer. Schlechte Bücher schaden weniger, als man glaubt, und gute Bücher nützen weniger, als man glaubt. Zum Glück - Leider.
Ich frage Kinder oft nach dem Inhalt von Werbesendungen. "Welches Waschmittel verwendet denn die Frau Rußwurm" (Vera Rußwurm ist eine der bekanntesten östereichischen Fernsehmoderatorinnen, und hat hier Reklame für Persil Megaperls gemacht.) Sehr viele Kinder sagen darauf "Persil Megaperls".
"Ja, aber verwendet sie das wirklich?"
Die Antworten reichen von Achselzucken bis zu: "Aber geh, woher denn!"
"Ja, aber warum erzählt sie dann, daß sie das verwendet?"
Die Kinder, im Chor: "Ja weil sie Geld dafür kriegt!"
Ich habe noch kein Kind im Schulalter getroffen, das gemeint hat, das, was die Werbung zeigt, sei wahr.
Nun könnte man daraus den Schluß ziehen, daß die Kinder das Medium Werbung durchschauen und die Werbung also keinen Schaden mehr anrichten kann.
Nichts wäre falscher.
Frage ich die Kinder weiter, ob sie das denn gut finden, daß man ihnen dauernd falsche Sachen erzählt, so verneinen die meisten ziemlich vehement.
Frage ich aber, ob sie, wenn sie für entsprechendes Honorar auch bereit wären, öffentlich Dinge zu erzählen, von denen sie nicht überzeugt sind (z.B. Schularbeiten machen ist klasse), so bejaht ein großer Teil ziemlich vehement, und für "eine Million" würden die meisten so ziemlich alles erzählen.
Ich glaube, das Beispiel macht ziemlich klar, wie Kinder mit Medien umgehen: Sie beurteilen nicht nur den Inhalt, der vermittelt wird, sondern auch die Umstände, unter denen er vermittelt wird, die Motivationen der Vermittelnden und das gesellschaftliche Umfeld. Sie haben gelernt, daß man der Werbung nicht glauben darf. Sie haben aber auch gelernt, daß es eine gesellschaftlich anerkannte Tätigkeit ist, von Berufs wegen zu lügen. Daß man damit sehr viel Geld verdienen kann und auch noch dazu von allen geschätzt wird. Und daß man der Kränkung und Demütigung, dauernd betrogen zu werden, am besten dadurch entgeht, selber ein Lügner und Betrüger zu werden. Sie lernen auch, daß die KinderbuchautorInnen, die zu ihnen in die Schulen kommen, die ihnen unterhaltsame Stunden bescheren, die ihnen meist sehr offen und aufmerksam entgegenkommen, die ihr Bestes tun, um ihnen die Wahrheit zu sagen und sie nicht zu belügen, die sie nach ihren Sorgen, Wünschen, Träumen fragen, daß diese guten und liebenswerten Menschen lange nicht so reich und berühmt sind wie die Pop- und Filmstars, die Fernsehjournalisten, die Werbefilmer und so weiter. Welche Schlüsse werden sie daraus wohl ziehen?
Na ja: Sicher nicht alle dieselben.
Besonders aufschlußreich muß für unsere Kinder der Vergleich zwischen Kindermedien und Erwachsenenmedien sein. Nehmen wir nur einmal die leidige "Gewalt-im-Fernsehen"-Frage. Niemand kann einem Kind heute verheimlichen, daß Erwachsene sich an Morden, Vergewaltigungen und so weiter begeilen. Mehr Kinder als man meint, finden Gelegenheit, solche Dinge selber zu sehen (auch Ihr Kind nämlich). Und die wenigen, die's nicht sehen, erfahren dann schon von anderen Kindern, wie's in solchen Filmen, Romanen etc. zugeht. Diskutiert wird eigentlich immer nur darüber, welchen Schaden es anrichtet, wenn Kinder sowas sehen oder lesen. Kaum jemals wird die Frage aufgeworfen, welchen Schaden es anrichtet, daß die Erwachsenen sich sowas anschauen, und die Kinder das wissen. Die logische Schlußfolgerung ist doch: Morde und Vergewaltigungen sind sowas Tolles, daß die Erwachsenen das für sich behalten und uns Kindern dieses Vergnügen nicht gönnen. Eine Zeitlang lassen Kinder sich mit "Kinderkrimis" und ähnlichem (in Film- oder Buchform) abspeisen. Aber es ist ihnen natürlich klar, daß das nicht die echte Ware ist.
Mit anderen Worten: Können die Kinder die "guten" Bücher, die wir ihnen zu lesen geben, wirklich ernst nehmen? Müssen sie sich nicht eigentlich des öfteren verarscht vorkommen?
Das alles klingt etwas pessimistisch. Ich will damit nicht sagen, daß "gute" Bücher sowieso nichts ausrichten. Ich will nur andeuten, daß man sich auch nicht zuviel davon erwarten darf. Wir Kinderbuchautoren und -autorinnen tun was wir können, um gute Bücher zu schreiben.
Aber was ist ein gutes Kinderbuch, möchte die "unterwegs"-Redaktion wissen. Ein Autor kann darauf natürlich nur antworten: Guckt euch meine Bücher an, dann werdet ihr sehen, was ich für ein gutes Kinderbuch halte.
Ich will einmal sagen, was ein gutes Buch für mich ist. Ein gutes Buch ist eins, das seinen Unterhaltungswert daraus bezieht, daß es wichtig ist. Also nicht eines, das wichtige Themen irgendwie in Unterhaltung einpackt. (Z.B.: Kampf gegen Atomkraftwerke ist wichtig, Krimi ist spannend, also packe ich das Thema Atomkraft in einen Krimi).
Natürlich lese ich Bücher, schaue ich fern, gehe ich ins Kino, ins Theater, um mich zu unterhalten. Ein gewisser Eskapismus ist da immer dabei, also der Wunsch, dem Alltag zu entfliehen. Ich lese ein Buch dann gerne, wenn ich mich in seiner Atmosphäre gerne aufhalte. Und dann ergreift mich plötzlich Erregung, wenn ich merke, daß es um etwas geht. Sei es, daß der Autor die endgültige Heilslehre gefunden hat, die nun wirklich und wahrhaftig die Welt erlösen wird, sei es, daß sich mir durch das Buch ein völlig neues Bild der Bienenzucht eröffnet, oder sei es, daß meine Sinne durch eine neue Geste, einen neuen Duft, eine neue Farbnuance bereichert werden.
Also, das Wort "neu" kommt hier recht oft vor. Nun ja, in der Neuheit besteht die Bereicherung. Was ich schon kenne, bereichert mich ja nicht mehr. Freilich: Alles, was ich schon kenne, hat mir noch unbekannte Seiten. Also: Auch der genauere Blick auf das schon Bekannte bereichert, das nahe Herangehen. Oder auch das Zurücktreten und Gewinnen einer neuen Perspektive.
Nun ist es mit Büchern so wie mit allem anderen im Leben: Das Neue zieht uns an, es weckt unsere Neugier, und es stößt uns gleichzeitig ab, es weckt unsere Angst (oder die mildere Form: unsere Vorsicht). Um sich dem Neuen mit Neugier nähern zu können, ist ein gewisses Selbstvertrauen notwendig, ein gewisser Mut, eine positive Stimmung. Wenn wir müde, traurig, unsicher sind, macht uns das Neue mehr Angst. Das ist der Grund, warum so viele Menschen, Erwachsene oder Kinder, Serien mögen. Serien, ob im Fernsehen, ob in Buchform, führen uns in eine vertraute Welt. Es werden uns immer wieder Überraschungen geboten, die uns in Spannung halten, aber wir wissen genau, welche Überraschungen wir zu erwarten haben. Serien machen keine Angst. Ähnlich wie Serien wirken auch Genres: Krimi, Science Fiction, Fantasy usw. Wer sich in "seinem" Genre bewegt, weiß, was dort zu erwarten ist. Das "unproblematische Buch" verspricht uns also, uns nicht mit Unbekanntem zu ängstigen. Es werden Monster auftreten, aber nur solche, die wir schon kennen. Held oder Heldin werden Gefahren ausgesetzt, aber nur solchen, die sie bestehen können. Die Liebenden werden sich am Schluß kriegen. Das unproblematische Buch verspricht uns, unser Weltbild nicht in Frage zu stellen, sondern uns in unseren Ansichten zu bestätigen. (So mag für den einen die Bibel, für die andere Freuds "Totem und Tabu" ein unproblematisches Buch sein. Politisches Kabarett erfüllt bei Grünen und Linken oft dasselbe Bedürfnis wie die Mainzer Fasnacht bei unpolitischen "braven Bürgern").
Das "gute" Buch ist immer auch eine Herausforderung. Die Begegnung mit einem richtigen Menschen - und das ist die Lektüre eines "guten" Buchs immer, nämlich die Begegnung mit dem Autor/der Autorin - ist eben ein Abenteuer. Ein "gutes" Buch führt uns ins Unbekannte. Ins Unbekannte der eigenen Seele - zum Beispiel.

Ich habe - zusamen mit Simone Klages - ein Buch gemacht, das heißt: "Und wir flogen 1000 Jahre"1. Das Buch ist ein Flop geworden. Niemand wollte es kaufen. Warum? Na ja, die BuchhändlerInnen konnten nichts damit anfangen. Es fängt so an: "Wir bestiegen unser Raumschiff, Anja, Carlotta und ich. Die Erde verzischte als blauer Punkt unter uns, so schnell flogen wir. Unser erster Planet hieß Hundeschnauze. Der gehörte uns ganz allein. Dort spielten wir sieben Jahre lang Schwarzer Mann, und drei Jahre Fang-Dir-Ein-Brüderchen, und wir aßen Spaghetti aus Büchsen. Dann flogen wir weiter. Unser zweiter Planet hieß Kornblume, und der war blau..." Na ja, und so weiter. Das Buch handelt, aber das merken die wenigsten, davon, wie sich Kinder durch die Sprache der Welt bemächtigen. "Einmal kamen wir in schwarze Einsamkeit. Da war alles traurig. Aber da sagte Carlotta: 'Entengrütze'. Und es ward ein Planet daraus..."
Ja was ist denn das für Unsinn, fragen sich die meisten Erwachsenen.
"Wir kamen auch zu dem Planeten Höhle. Da konnten die Leute nichts sehen. Da gaben wir ihnen unsere Augen, damit sie sehen konnten. Jetzt waren wir blind. Aber wir sagten: 'Sterne', da konnten wir die Sterne sehen. Und wir sagten 'Himmel', da konnten wir den Himmel sehen. Und wir sagten noch: 'Schnürsenkel' und 'Löwenzahn' und 'Elfenbein'. Und alles, was wir sagten, konnten wir sehen..."
Die meisten erwachsenen Menschen können sich nicht mehr daran erinnern, wie die Dinge durchs Benennen sichtbar geworden sind. Das war irgendwann im Alter von ein bis zwei Jahren. Den Kindern ist diese Zeit aber noch nahe. Darum verstehen sie dieses Buch, wenn ich es ihnen erzähle, sofort. Ohne Erklärung.
Ich habe ein anderes Buch geschrieben - auch mit Simone Klages - über einen Jungen, der im Krieg seine Eltern verloren hat, und jetzt niemand mehr liebhaben will2. Außer höchstens jemand, der von einem Gewehr nicht erschossen werden kann. In dem Buch gehet es eigentlich darum, wie Menschen sich aus Angst selber in einen Panzer sperren.
Ich habe eine idyllische Liebesgeschichte geschrieben, die in einem abgelegenen Bergtal spielt, unter Wesen, von denen nicht ganz klar ist, ob sie Menschen oder Gnome sind.
Ich habe über Kinder geschrieben, die sich gegen ihre Eltern durchsetzen, sich nichts gefallen lassen und die Erwachsenen sozusagen Mores lehren3.
Ich habe aber auch ein Buch über ein Mädchen geschrieben, das den Zugang zu seinen Eltern sucht, eine Geschichte, die ganz harmonisch endet.4 "'Heute scheint der Mond so schön, Viktoria', sagte die Mutter. 'Willst du bei uns sitzen?' 'Ja, sagte Viktoria'"
Ich denke, daß meine Bücher voller Gegensätze sind - genauso wie die Welt.
1Und wir flogen Tausend Jahre, Verlag Beltz & Gelberg
2Der Blaue Junge, Verlag Beltz & Gelberg
3Bimbo und sein Vogel. Verlag Beltz & Gelberg
Lieschen Radieschen und der Lämmergeier, Verlag Beltz & Gelberg
4Als Viktoria allein zu Hause war. Verlag St. Gabriel