Martin Auer
Rotenmühlgasse 44/30
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Barbara Aistleitner
 

15. August 1993
 

Liebe Barbara,

vielen Dank für Ihr großes Interesse an mir. Tja, also zu den Fragen:

Wie bin ich zur Schriftstellerei gekommen? Für mich waren Bücher schon als Kind sehr wichtig, vermutlich zu wichtig. Meine Mutter hat uns Kindern viel vorgelesen, und ich habe sicher meine wohligsten, geborgensten Stunden mit Pu dem Bären und Pippi Langstrumpf verbracht. Meine Mutter hat aber auch für sich selber viel gelesen, manchmal wollte sie Ruhe haben vor uns Kindern, um ungestört lesen zu können. Vermutlich war ich ein bißchen eifersüchtig auf diese Bücher. Jedenfalls war ich begierig darauf, die Kunst des Lesens auch zu erlernen, und habe sie mir auch angeeignet, bevor ich noch in die Schule gekommen bin. Dann habe ich alles gelesen, was mir unter die Finger gekommen ist. Irgendwie bekam ich den Eindruck, daß Dichter die Größten waren. Na ja, meine Mutter schätzte Dichter sehr. Also wollte ich auch Dichter werden, so wie andere Buben König oder Skirennläufer oder Boxweltmeister werden wollen.
Ich war viele Jahre ein erfolgloser Schriftsteller, allerdings auch ein fauler. Ich habe Gedichte und Kurzgeschichten geschrieben. Ich hatte die Vorstellung, daß man Schriftsteller wird, indem man Kurzgeschichten an Zeitschriften schickt. Dafür war ich allerdings ein oder zwei Generationen zu spät dran. Ich habe Schubladen voller Romanfragmente, erster Akte und so weiter. Ich habe immerhin ein paar Lieder geschrieben, die ein gewisses Publikum erreicht haben, wenn ich sie selber gesungen habe. Mein erstes Kinderbuch habe ich geschrieben, weil man eben so alles mögliche schreibt, mal ein Drama und mal einen Roman und mal ein Kinderbuch. Ich hatte eben gerade eine Idee dafür. Und weil ich schon dabei war, habe ich gleich ein zweites geschrieben. Zu meinem Glück habe ich schon lange Christine Nöstlinger gekannt, und die hat die Manuskripte gelesen und eines davon an einen Verlag (Beltz & Gelberg) weiterempfohlen. Seither bin ich als Kinderbuchautor abgestempelt. Aber in Wirklichkeit sind Kinderbücher immer noch nur ein Teil meiner Arbeit.

Wenn ich ein Kinderbuch schreibe, denke ich dabei auch daran, daß Eltern, Großeltern, Tanten Onkel und LehrerInnen das Buch vielleicht auch lesen. Die eine oder andere Pointe wendet sich dann direkt an die mitlesenden Erwachsenen. Meine Idealvorstellung ist das Familienbuch. Jedenfalls ist eine Geschichte, die für Erwachsene zu dumm ist, die Erwachsenen nichts mehr zu sagen hat, auch nicht gut genug für Kinder.

Sollen die Gedichte einen didaktisch/moralisierenden Hintergrund haben oder einfach nur Freude am Lesen erzeugen? Weder noch. Gedichte sollen Freude machen, wie jede Art von Kunst. In unseren Breiten herrscht die seltsame Vorstellung: wenn es Vergnügen macht, ist es nicht wertvoll. Und wenn das Vergnügen wertvoll sein soll, dann darf es nicht um seiner selbst willen da sein, sondern muß dazu dienen, etwas zu "vermitteln".
Kunst ohne Freude gibt es nicht. Aber Freude ist nicht einfach nur. Die Freuden des Entdeckens, des Erkennens, die Freude, etwas zu erarbeiten, die Freude, einen Widerstand zu überwinden, die Freude, sich anzustrengen, ein Ziel zu erreichen, die Freude zu kommunizieren, nicht allein zu sein, das sind zum Beispiel ziemlich komplexe Freuden. Manche Freuden sind ziemlich schwer zu erlangen, in manche muß man ordentlich Arbeit stecken.

Bediene ich mich bewußt des kindlichen Sprachschatzes? Na sicher. Was will ich damit erreichen? Daß die Kinder mich verstehen. Wenn man für Kinder schreibt, hat es wenig Sinn, allzuviele Wörter und Formen zu verwenden, die die Kinder wahrscheinlich nicht verstehen. Andererseits können die Kinder beim Lesen ihren Wort- und Sprachschatz ja auch erweitern. Das macht ja auch Spaß. Wenn's aber zu schwierig wird, macht's wiederum keinen Spaß mehr. Da muß man halt immer das richtige Maß finden.

Woher ich die Inspiration nehme? Aus den Fernsehnachrichten, aus Träumen, aus Gesprächen mit Kindern, aus dem Unbewußten, aus der Zeitung, aus den Büchern der Konkurrenz... aus dem Leben halt. Dichten ist Kommunikation.

Welcher Arbeitsweise ich mich bediene, um neue Ideen/Inspirationen in Gedichtform zu verarbeiten? Ich warte, bis mir etwas einfällt. Wenn es mir gefällt, schreibe ich es auf. Wenn es mir nicht gefällt, warte ich weiter. Um gute Gedichte zu schreiben, muß man nur Geschmack haben - und Geduld.

Mein Buch "Was niemand wissen kann" könnte man in jeder Schulstufe einsetzen. Allerdings würde das auf die Dauer langweilig werden.

Zu Ihrem letzten Wunsch: Ob Dichter ihre eigenen Werke interpretieren können, weiß ich nicht. Mit dem Interpretieren von Gedichten ist es ähnlich wie mit dem Erklären von Witzen: sie werden davon nicht lustiger. Und nicht dichter. Ein gutes Gedicht ist dicht. Das heißt: Was das Gedicht sagt, kann nicht anders gesagt werden. Und schon gar nicht besser. Sonst wäre ja die Interpretation das Gedicht. Ich weiß nicht, ob man lernen kann, Witze zu verstehen, wenn man oft genug welche erklärt kriegt. Ich bezweifle es eigentlich. Und ich glaube auch nicht, daß man lernen kann, Gedichte zu verstehen, wenn man sie interpretiert. Wenn ich einen Witz nicht verstehe, und man erklärt ihn mir, dann verstehe ich ihn zwar, aber lachen kann ich auch nicht mehr drüber. Also ist der Witz eigentlich keiner mehr, sein Wesentliches ist verloren. Ähnlich, fürchte ich, ist es mit Gedichten. Und sonstigen Kunstwerken.
Ein Gedicht ist nicht irgendeine Schale, eine Kassette, eine Nuß, in der etwas versteckt wäre: der Inhalt, der Sinn. Ein Gedicht ist, glaube ich jedenfalls, ein Vorgang. Der Vorgang beginnt, wenn ich mir das Gedicht ausdenke. (Wenn das der Beginn ist. Vielleicht liegt der Beginn auch weiter zurück.). Der Vorgang geht weiter, wenn - beispielsweise - Sie das Gedicht lesen oder hören. Was Sie lesen oder hören ist (leider - oder zum Glück) nicht dasselbe, was ich mir ausgedacht habe. Es hat natürlich etwas mit dem zu tun, was ich mir ausgedacht habe. Aber es ist nicht dasselbe. Das Gedicht passiert irgendwo in der Mitte zwischen Ihnen und mir. Und wenn jemand anders das Gedicht liest - sagen wir, Ihre Mutter - dann ist es wieder nicht dasselbe. Was der/die Leser/in des Gedichts erlebt, hängt - offensichtlich - einerseits von dem Wortlaut des Gedichts ab, und andererseits davon, wie sein/ihr Geist funktioniert, auf die Worte reagiert. Wenn Sie das Gedicht morgen lesen, ist es wieder nicht dasselbe. Das alles ist ja nicht besonders originell. Was ich meine ist nur: das Gedicht, das sind nicht die Worte auf dem Papier, sondern alle die Vorgänge, Erlebnisse, die durch diese Worte ausgelöst werden. Ich kann nicht hergehen und Noten verteilen und sagen: du hast das Richtige erlebt, und du nicht. Ich würde das ja vielleicht gerne tun, schließlich bin ich auch nur ein Mensch. Aber es geht schon deswegen nicht, weil ich ja höchstens ahnen kann, was Sie erleben, wenn Sie mein Gedicht hören oder lesen.
Noch einmal: Wenn ich Ihnen einen Witz erzähle, und Sie lachen spontan, dann darf ich annehmen, daß Sie den Witz verstanden haben, und daß er Ihnen Vergnügen bereitet. Wenn ich ein Gedicht vortrage, erkenne ich am ehesten noch daran, wie meine Zuhörer dreinschauen, wie sie atmen, wie sie lächeln, ob das Gedicht sie ergriffen hat. Wenn das Gedicht meine Zuhörer nicht ergreift, dann ist es in die Hosen gegangen, und die beste Erklärung kann nichts mehr gut machen. Es kommt eben nicht darauf, den Sinn oder Inhalt oder Gehalt eines Gedichts zu verstehen, sondern davon ergriffen zu werden. Die Freude, die man beim Hören oder Lesen eines Gedichts empfindet, ist möglicherweise die Freude des Einverständnisses, das Gefühl - vielleicht die Illusion - daß jemand ähnlich empfindet wie ich, das Gefühl, verstanden zu werden. Ich meine damit: der Leser fühlt sich vom Dichter verstanden. Darauf kommt es viel mehr an, als daß der Dichter vom Leser verstanden wird.
Natürlich: Wenn das Gedicht bei Ihnen das Bedürfnis hervorruft, es zu interpretieren,dann gehört auch das zum Gedicht. Dann muß ich das auch akzeptieren. Wenn Sie also gerne möchten, dann interpretiere ich jetzt. Los gehts:

Es gibt ein Gespenst,
das du nicht kennst.
Aber es kennt dich!

Ist der Gedanke nicht fürchterlich?

Nein, ich lass' es lieber sein. Wenn ich jetzt anfangen wollte zu interpretieren, dann müßte ich erst einmal alles herschreiben, was ich über Gespenster weiß. Daß sie tot sind, unheimlich, furchterregend, über Kräfte verfügen, die wir nicht kennen, in einer fremden, anderen Welt existieren usw. usw. "Es gibt ein Gespenst" ruft ja alle diese Assoziationen hervor. "das du nicht kennst." Das betont dieses Unheimliche noch. Ein Gespenst, das ich nicht kenne, ist sicher noch gefährlicher als eins, das ich immerhin irgendwie abschätzen kann. "Aber es kennt dich!". Noch schlimmer. Dieses Gespenst hat einen gewaltigen Vorsprung. Es kann jederzeit über mich herfallen, und ich weiß nicht einmal, wie es aussieht, wo es sich versteckt, was es will, ob es böse ist oder freundlich. " " Jetzt kommt eine Pause, in der ich mir all das Fürchterliche noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen und mich ordentlich reinsteigern kann. "Ist der Gedanke nicht fürchterlich?" Ach so, es geht nicht wirklich um ein Gespenst, es geht nur um den Gedanken, eine Vorstellung. Gespenster sind ja auch gar nicht wirklich, es gibt ja gar keine, fällt mir gerade ein. Aber solche Empfindungen des Ausgeliefertseins an dunkle, unbekannte Mächte, die habe ich schon manchmal, die kenne ich gut. Die Großen, die Erwachsenen, die wissen oft soviel mehr als ich, die kennen sich aus, wo ich mich nicht auskenne. Sie tun auch immer so, als ob sie mich kennen würden: Sie wissen, was für mich gut ist und was nicht, so, als ob sie in mich hineinschauen könnten. Ich kenne sie aber nicht, ich verstehe sie oft überhaupt nicht, (hier müßten jetzt alle die Situationen, an die das Gedicht die Lesenden erinnern könnte, aufgeführt werden. Da gibt es zum Beispiel eine Schulbehörde, die mich kennt, die sagt, daß ich in die Schule gehen muß. Aber ich kenne diese Behörde überhaupt nicht. Und so weiter und so fort). Aber der Dichter gibt mir zu verstehen, daß er solche Empfindungen auch kennt, daß er sie auch fürchterlich findet. Er sucht mein Einverständnis, er fragt mich: "Ist das nicht fürchterlich" und ich könnte ihm antworten: "Ja, schrecklich, nicht wahr?", und in diesem Einverständnis, in dem Gefühl, nicht allein zu sein mit meiner Angst, liegt etwas Tröstliches, etwas Befreiendes, und ich kann lachen, die Spannung los werden, die der Gedanke an das Gespenst in mir hervorgerufen hat.

So in etwa stelle ich mir das Erlebnis meiner Zuhörenden vor, wenn ich das Gedicht selber vortrage. Was man beim Lesen erlebt, kann ich mir schon viel schwerer vorstellen.
Na schön. Jetzt wissen wir, was der Dichter gemeint hat. Wissen wir es? Hat sich der Dichter das alles gedacht, als er das Gedicht schrieb? Nein. Er hat einen Reim auf Gespenst gesucht. Und daraus hat sich der Rest ergeben. Ziemlich spontan, wenn ich mich recht erinnere. Irgendwie lustig, dachte der Dichter, und schrieb das Verslein nieder. Natürlich: daß der Dichter auf diese Idee kommt, wenn er einen Reim auf Gespenst sucht, ist kein Zufall, kommt aus seinen Erfahrungen, aus seiner Persönlichkeitsstruktur. Das habe ich gemeint, als ich schrieb, der Anfang des Gedichts liegt vielleicht viel weiter zurück.
Und die Lesenden, Hörenden, denken die sich den ganzen Sermon, den ich da vorhin aufgeschrieben habe? Sicher nicht. Das alles läuft auf einer ganz anderen Ebene ab, nicht auf der Ebene des intellektuellen, rationalen Verstehens, sondern viel tiefer.
Hilft uns also dieser ganze Sermon, das Gedicht besser zu erfassen? Oh weh. Mir scheint, allerhöchstens könnte jemand, dem das Gedicht nichts sagt, sich jetzt vorstellen, was das Gedicht denen sagt, denen es etwas sagt.

Ein Kunstwerk - ob ein Verslein von M.A. oder ein Drama von Shakespeare - will erlebt sein. Erleben ist etwas anderes als Verstehen. Das Verstehen ist sozusagen nur eine technische Voraussetzung für das Erleben. Um ein Drama Shakespeares erleben zu können, muß ich mich vielleicht erst einmal mit der fremdartigen Sprache vertraut machen. Etwas Geschichtskenntnisse könnten unter Umständen helfen. Sicher. Vielleicht ist es aber auch das Fremdartige, Unverständliche, was mich daran fasziniert, vielleicht verlieren die Stücke viel von ihrem Zauber, wenn ich alles verstehe. Wir werden die Stücke sowieso nie so erleben, wie sie Shakespeares Publikum erlebt hat. Damals waren sie modernes Theater, heute sind klassisch, haben eine Patina angesetzt aus all den Gedanken und Erlebnissen, die sie seit Hunderten von Jahren in Millionen von Hirnen hervorgerufen haben. All das hat sich darauf abgelagert, all das lesen wir heute mit, die Stücke leben weiter und verändern sich im kollektiven Bewußtsein der Menschheit.

Ich will jetzt gar nicht sagen, daß die rationale Beschäftigung mit einem Kunstwerk überhaupt keinen Wert hat. Ganz und gar nicht. Die Freuden des Denkens sind nicht zu verachten. Das Spekulieren, Forschen, Beweisführen hat wiederum seine eigene Ästhetik. Diese freilich liegt wiederum außerhalb des Rationalen. Die Rationale Befassung mit einem Kunstwerk ist aber nur eine unter vielen Möglichkeiten, auf das Kunstwerk zu reagieren, zu antworten. Und meiner Meinung nach nicht die wichtigste oder gar die entscheidende.

Leider läßt sich das Erleben eines Kunstwerks nicht abprüfen und benoten. Und deshalb fühlt sich die Schule hier auf unsicherem Terrain. Es läßt sich auch nicht lehren, jedenfalls nicht indem man den Schüler sagt, wie es geht. Erleben kann ein jedes nur für sich. Aber helfen kann man, indem man den Kindern solche Erlebnisse verschafft. Ein Gedicht gut vortragen können ist da viel wichtiger, als es erklären können. Lustigerweise nennen sich beide Vorgänge Interpretation.

Ich würde mich freuen, wenn Sie diese paar Bemerkungen brauchen können. Ich würde mich auch freuen, wenn Sie eine Gelegenheit finden, darüber im Seminar - ich weiß jetzt nicht, sind Sie auf der Uni oder auf der Pädak? - zu sprechen.

Viel Spaß!
 

Martin Auer