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Wie man ein Leuchtturm ist

von Martin Auer

Ich erinnere mich jetzt: In einem früheren Leben war ich ein Leuchtturm. Ihr wißt das wahrscheinlich nicht, aber man kann auch als Maschine oder Gebäude wiedergeboren werden. Wenn man beispielsweise ein sündiges, verschwenderisches Leben geführt hat, kann es sein, daß man als Automobil wiederkommt. Oder als Geschirrspüler. Das passiert allerdings nur Menschen. Ein Frosch kommt niemals als Rasenmäher wieder. Er wüßte gar nicht, wie man ein Rasenmäher ist. Aber es gibt genug Menschen, die bestens wissen, wie man ein Rasenmäher ist. Also gebt acht auf euer Karma!

Jedenfalls, als ich aufwachte und die Welt mein Licht erblickte, war ich richtig stolz. Ich blitzte meine Nachricht hinaus in die Welt: zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Und nach zehn Sekunden wieder: zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Und noch einmal. Und noch einmal. Das hat mich tagelang unterhalten. Monatelang. Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Das war meine Botschaft an die Welt. Und eine gute Botschaft dazu. Sie rettete Leben. Sie half Tausenden von Seeleuten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre Familien zu ernähren. Sie hielt den Welthandel in Schwung. Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Der Rhythmus war auch gut! Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Ziemlich cool. Ja, das war schon was!

Nach einer Weile begann ich mich zu fragen, ob da nicht auch noch ein tieferer Sinn dahinter steckte. Ich beobachtete das Meer. Kamen nicht die Wellen genau in diesem Rhythmus herein? Erst zwei kleine, dann eine große, dann eine Weile nichts, dann wieder drei kleine? Es kam mir vor, daß sie die meiste Zeit diesem Rhythmus folgten. Natürlich mußte man wissen, wo man mit dem Zählen anfing. Manchmal kriegte ich es nicht hin. Aber das war nur Mangel an Konzentration meinerseits. Die Wellen hielten sich an das Schema, da war ich sicher.

Und der Wind. Der Wind tat es auch. Die Folge von leichten Brisen, starken Böen und Windstille entsprach demselben Muster. Natürlich kann nicht jeder richtig zwischen Brise und Bö unterscheiden. Da muß man schon ein Gefühl dafür kriegen. Aber sobald einem klar war, wann man mit einer Brise und wann mit einer Bö zu rechnen hatte, dann konnte man sie ganz leicht unterscheiden.

Und dann waren da noch die Möwen. Die Art, wie sie sich auf den Felsen unter mir in einer Reihe hinsetzten, war keineswegs beliebig. Wenn man genau hinsah, bemerkte man, daß die Zwischenräume zwischen ihnen demselben Muster folgten.

Das war alles kein Zufall. Da lag eine Bedeutung drin. Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Das war ein Naturgesetz. Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Ja, ich hatte ein Naturgesetz entdeckt, da war kein Zweifel möglich.

Aber hatte ich es wirklich nur enteckt? War es schon so gewesen, bevor ich angefangen hatte, mein Signal auszustrahlen? Wie hätten die Wellen wissen sollen, in welcher Reihenfolge sie vom Meer hereinrollen sollten, ohne daß ich ihnen den Rhythmus vorblinkte? Wie hätte der Wind wissen sollen, wie er zu blasen hatte, die Möwen, wie sie auf dem Felsen zu sitzen hatten? War es nicht so, daß die ganze Natur meinem Rhythmus folgte wie ein Orchester seinem Dirigenten? Hatte ich nicht also der Natur das Gesetz gegeben?

Ein großartiger Gedanke, ja. Ein stolzer Gedanke. Oder war er zu stolz? Aber Tatsachen sind nun einmal Tatsachen.

Sogar die Sterne am Himmel waren auf dieselbe Art angeordnet. Man konnte vorgestellte Linien durch das Sternengewimmel ziehen, und entlang diesen Linien das Muster finden. Manchmal waren es die verschiedenen Größen der Sterne, die das Muster bildeten, manchmal die Zwischenräume zwischen ihnen, manchmal ihre Helligkeit. Aber das Muster war am ganzen Himmel zu finden, wenn man es nur suchte.

Das war also die geheime Weltformel: Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz. Sie war einfach überall. Das Gras zu meinen Füßen war zu weit weg für mich, um die Länge der einzelnen Halme zu beurteilen, aber ich war sicher, daß auch das Gras dem Muster folgte.

Es gab nur eine Sache, die mich ärgerte. In sehr klaren Nächten konnte ich einen kleinen Stern sehen, ganz niedrig überm Horizont. Es war ein funkelnder Stern. Und er blinkte dreimal kurz, Pause, dreimal kurz, Pause, dreimal kurz.... Niemals anders. Er hielt sich nicht an den Rhythmus. Er machte alles kaputt. Die ganze Harmonie der Natur war unterbrochen wegen diesem kleinen Stern. "Zweimal kurz, einmal lang, Pause, dreimal kurz!" blinkte ich ihn ärgerlich an.

"Dreimal kurz, Pause, dreimal kurz Pause..." blinkte er zurück.

"ZWEIMAL KURZ, EINMAL LANG, PAUSE, DREIMAL KURZ!"

"Ja, sicher, dreimal kurz, Pause, dreimal kurz, Pause..."

"ZWEIMAL KURZ, EINMAL LANG, PAUSE, DREIMAL KURZ!"

"He, was beißt dich? Dreimal kurz, Pause, dreimal kurz, Pause..."

"DU UNTERBRICHST DEN RHYTHMUS!"

"Welchen Rhythmus?"

"ZWEIMAL KURZ, EINMAL LANG, PAUSE, DREIMAL KURZ!"

"Cooler Rhythmus, klar. Dreimal kurz, Pause, dreimal kurz, Pause..."

"UND WARUM KANNST DU NICHT DEN TAKT HALTEN WIE ALLE ANDEREN AUCH? ZWEIMAL KURZ, EINMAL LANG, PAUSE, DREIMAL KURZ!"

"Weil ich 'Dreimal kurz, Pause, dreimal kurz, Pause' machen muß. Was anderes kann ich nicht."

"ABER DU MUSST MEINEM RHYTHMUS FOLGEN!"

"Warum?"

"ICH BIN DER LEUCHTTURM!"

°

Mein Gott, wie sie gelacht haben. Das Meer und der Wind, die Felsen und die Möwen, jeder Grashalm zu meinen Füßen, sie brüllten vor Lachen. Und der andere Leuchtturm natürlich: ha ha ha, Pause, ha ha ha, Pause, die ganze Nacht.

Ihr könnt euch vorstellen, daß es mir nicht leichtgefallen ist, von der Größe der Erdkugel zu hören und wie lang alle die Küstenlinien sind. Ich hatte einiges zu lernen: Über Navigation und Trigonometrie, Seekarten und Handbücher und warum jeder Leuchtturm sein eigenes Signal hat, das ihn von den anderen unterscheidet. Und daß man mindestens zwei Bezugspunkte braucht, um zu wissen, wo man ist. Daß es einem noch nicht viel weiterhilft, wenn man bloß einen Leuchtturm identifiziert hat.

Ich konnte das alles zuerst gar nicht glauben. Es sagte mir nichts. Es war nicht wirklich. Erst nach einiger Zeit konnte ich akzeptieren, daß es die Welt, die ich mir konstruiert hatte, war, die nicht wirklich war. Ich lernte, daß ich immer noch eine bedeutsame Rolle im Leben spielen konnte, auch wenn sie nur im Zusammenspiel mit anderen Bedeutung erlangte. Ich wurde sogar wieder ein bißchen stolz auf meine Individualität, mein einzigartiges, unverwechselbares Signal, das, wenn es auch nicht mehr den Rhythmus des Universums bestimmte, doch meiner Existenz Sinn verlieh.

Als ich dann abgerissen wurde, um einem größeren Leuchtturm Platz zu machen, wurde mir erlaubt, wieder als Mensch auf die Welt zu kommen. Außerdem erfuhr ich ich, daß ich vor meiner Zeit als Leuchtturm der Papst gewesen war.

Heute hat man zum Navigieren Satelliten. Die sind unfehlbar.


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Lighthouses and Billiard Balls by Jerry Dreesen

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