Woher kommen die Ideen? - Artikel für das Lesebuch "Pusteblume"
 

Jänner 1999
 

Eine Frage, die mir Kinder immer wieder stellen, ist: "Wie kommst du eigentlich auf deine Ideen?"
Tja, und dann stehe ich da und weiß keine Antwort. Wie komme ich wirklich auf die Ideen? Da gibt's natürlich verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel bitten mich Kinder manchmal um eine Geschichte. Da hat mich zum Beispiel einmal ein Mädchen - sie hieß Caroline - gebeten, ihr eine Geschichte zu schreiben. Die Geschichte sollte heißen: "Warum der Hase lange Ohren hat". Also habe ich mich hingesetzt und überlegt. Ich hatte nicht viel Zeit, denn ich hatte ihr die Geschichte schon für den nächsten Tag versprochen, und außerdem hatte ich auch noch andere Dinge zu erledigen. Also begann ich zu überlegen. Solche Geschichten fangen doch immer so an: "Früher einmal hatten die Hasen kurze Ohren. Da konnten sie natürlich schlecht hören, und viele wurden vom Fuchs gefressen. Doch eines Tages traf ein Hase eine gute Fee..." oder so ähnlich. Der Hase tut eine gute Tat, und zum Dank darf er sich von der Fee etwas wünschen... Nein, dachte ich, so geht's nicht. Solche Geschichten gibt's ja zu Tausenden, das ist doch langweilig, und wahr ist es auch nicht. Und plötzlich war eine andere Idee da. Ich schrieb sie sofort in den Computer: "Warum der Hase lange Ohren hat, ist leicht erklärt: Der Hasenpapa zieht sie ihm immer lang!" Das stimmte zwar nun auch nicht, denn Hasenväter tun so etwas nie, 'Aber', dachte ich, 'auch wenn es nicht stimmt, so ist es doch wahr.' Denn jeder weiß natürlich, was damit gemeint ist.
"Der Hasenpapa sagt: Wenn du jetzt nicht gleich folgst, dann zieh ich dir die Ohren lang!" Es gibt viele Leute, die so mit ihren Kindern reden. Das ist traurig. Aber wenn ich die Sache den Hasen in die Schuhe schiebe, kann man trotzdem drüber lachen. Und keiner kann sich beschweren, denn ich rede ja nicht von Leuten, sondern von Hasen! Der Rest der Geschichte schreibt sich dann fast von selbst. Was das Hasenkind alles anstellt, und wie ihm der Papa immer dafür die Ohren langzieht. Und das Ganze bekommt dann noch einen überraschenden Schluss.*)
Aber warum fällt mir überhaupt zu einer Frage, in der es um Hasenohren geht, eine Geschichte über Kindererziehung ein? Wahrscheinlich deshalb, weil ich viel über Kindererziehung nachdenke. Jedenfalls mehr, als über Hasenohren. Ich denke überhaupt über Vieles nach. Und wundere mich über alles. Und vor allem wundere ich mich über Dinge, über die sich die meisten Leute nicht wundern, weil sie sich schon daran gewöhnt haben.
Ich wundere mich, warum der Himmel blau ist. Und warum Wasser nass ist. Und warum man zum Kindermachen zwei verschiedene Sorten Leute braucht (es könnten ja auch drei nötig sein, oder nur eine). Ich finde es erstaunlich, dass meine Augen eine Schokolade sehen können, die zehn Meter weit weg ist, aber dass meine Zunge eine Schokolade, die zehn Meter weit entfernt ist, nicht schmecken kann. Wir sind alle von Kindheit an gewöhnt, dass die Zunge nur schmecken kann, was sie berührt, also denken die meisten von uns nie daran, dass es vielleicht auch anders sein könnte. Ich denke oft darüber nach, wie es wäre, wenn es anders wäre. Wie wäre es, wenn ich nicht in einer Stadt geboren wäre, sondern in einem Dorf? Nicht in Österreich, sondern in Nigeria? Nicht als Mensch, sondern als Vogel? Wie wäre es, wenn es mich überhaupt nicht gäbe? Wenn es gar nichts gäbe? Wie wäre es, wenn es keine Zeit gäbe? Wie wäre es, wenn es keine Tiere gäbe, nur Steine und Pflanzen? Wie wäre es, wenn es keine Pflanzen gäbe? Gäbe es dann Tiere? Und Menschen? Über all das wundere ich mich. Ich wundere mich, wie der Fernsehapparat funktioniert, und warum Männer ihren Bart abrasieren. Warum in manchen Ländern zu manchen Zeiten die Männer lange Haare tragen und die Frauen kurze. Und in anderen Ländern zu anderen Zeiten die Frauen lange und die Männer kurze. Und wieder in anderen Ländern zu anderen Zeiten ein jedes mit seinen Haaren machen kann, was es will. Ich wundere mich, warum man eigentlich für Geld etwas kriegt. Und warum ein Tausender mehr wert ist, als ein Hunderter. Ein Tausender ist doch nicht zehnmal so groß wie ein Hunderter? Und es kostet auch nicht zehnmal soviel Arbeit, "1000" drauf zu drucken, wie "100"?
Ich glaube, ich habe deshalb so viele Ideen zu Geschichten, weil ich mich über so Vieles wundere. Am meisten wundere ich mich über uns Menschen. Warum sprechen wir verschiedene Sprachen? Warum ist es in manchen Ländern eine Sünde, eine Kuh zu schlachten, und in anderen Ländern eine Sünde, ein Schwein zu essen? Warum können wir die Augen zumachen, aber nicht die Ohren? Warum bewundert man bei manchen Völkern die, die am meisten besitzen, und bei anderen Völkern die, die am meisten verschenken und am wenigsten behalten? Könnte ein Mensch eigentlich alleine existieren, ohne die Hilfe von anderen? Und warum, warum, wenn die Menschen einander doch so brauchen, warum ist es so, dass sie einander berauben, ausbeuten und totschießen?
Wenn mich etwas sehr wundert, und ich finde eine Antwort auf die Frage, dann schreibe ich eine Geschichte, damit andere Leute meine Antwort auch erfahren können. Wenn mich etwas sehr wundert, und ich finde keine Antwort, dann schreibe ich eine Geschichte, damit sich andere Leute auch wundern und mir vielleicht die Atwort sagen, wenn sie eine finden.

*)Martin Auer und Linda Wolfsgruber: "Warum der Hase lange Ohren hat" Gabriel Verlag, 1999