Lieber Gott, gell, es macht nichts, daß ich soviel weinen muß? Ich kann's schon so, daß man nichts hört in der Nacht im Bett. So ist es nicht so schlimm, gell? Wenn ich eh niemand stör.

Am Häusl kann ich nicht weinen. Am Tag dürfen wir nicht raufgehen zu den Klos beim Schlafsaal, und unten haben wir nur vier. Zwei für die Mädchen und zwei für die Buben. Da gehn sie sich immer gleich beschweren, wenn ich da drin bleib und weinen muß.

Lieber Gott, ich bin dir ja nicht bös, daß du die Mama hast sterben lassen. Es hat ja so sein müssen. Wenn du es gemacht hast, dann hat es so sein müssen, ich weiß. Aber, gell, lieber Gott, sie ist im Himmel? Ich will doch auch gern in den Himmel kommen, aber ich hab solche Angst, wenn sie dann nicht da ist. Lieber Gott, sie hat nie was Böses getan. Sie war nur bös auf dich, weil du den Vattern hast sterben lassen, und sie hat ihn doch so gern gehabt. Sie hat das halt nicht so verstanden. Und vorher hat sie eh an dich geglaubt, bevor der Vater gestorben ist, nur nachher nicht mehr. Weil sie gesagt hat, du kannst das nicht zulassen, wenn es dich gibt, und wenn du es doch zulassen kannst, dann will sie nix wissen von dir. Aber sie hat es sicher nicht so gemeint, sie war doch ein guter Mensch.

Lieber Gott, gell, der Vater war auch ein guter Mensch? Sonst hätt ihn die Mutter nicht so gern gehabt. Obwohl, er hat auch nicht an dich geglaubt, weil er Freidenker war. Aber in der Kirche war er trotzdem, wegen der Mama. Weil die Mama hat ja eh an dich geglaubt, nur nachher nicht mehr. Früher waren wir katholisch, aber wie der Vater gestorben ist, hat er zur Mutter gesagt, sie soll mit uns evangelisch werden. Weil ohne Kirche kommt eine Frau allein nicht aus. Aber die Katholischen hat er noch weniger mögen. Und deswegen bin ich jetzt im evangelischen Waisenhaus.

Ein fescher Mann war er und so lustig und gut, hat die Mutter immer gesagt. Und er hat gesagt, daß Kinder nicht gehaut werden dürfen. Zwar, einmal hat er die Ossi gehaut, aber nur, weil sie ihn angelogen hat. Wie sie das Grießkoch in den Kübel geschüttet hat und dann gesagt hat: "Vatta, bin scho fertig!" Da ist ihm die Hand ausgerutscht. Aber nur das eine Mal. Und zur Mutter hat er ganz entsetzt gesagt: "Steffi, die Ossi lügt!" Aber er wird schon nicht so fest hingehaut haben.

Und, gell, lieber Gott, daß du ihn hast sterben lassen, das war wegen dem Krieg, nicht weil er schlecht war? Er hat doch einen Lungenschuß gehabt und Tuberkulose. Da hat er nicht arbeiten können. Nur manchmal, wenn es ihm besser gegangen ist.

Der Papa ist am Krieg gestorben, hat die Mama gesagt. Und wie die Ossi von der evangelischen Jugend gekommen ist und Kriegslieder gesungen hat, da hat sie gleich eine Tetschen gfangen von der Mama, und die Mama hat gesagt: "Durt gehst ma nimmer hin!"

Und ein Buch hat er geschrieben über seine Erlebnisse im Krieg, aber nur den Anfang. Die Mutter hat es uns gezeigt, mit Tintenblei auf so schmalen Zetteln hat er das geschrieben, von einem Greißlerblock, und wo der Tintenblei schon ausgebleicht war, hat es die Mama mit der Feder nachgezogen. Und am Schluß ist gestanden, er möchte seinen Kindern einprägen: "Nie wieder Krieg."

Und den Garten, hat die Mutter gesagt, das hat er auch für uns gemacht, daß er den Kleingartenverein gegründet hat. Damit seine Kinder eine gute Luft haben zum Atmen, wegen der Tuberkulose. Weil wir haben ja auch die Tuberkulose gehabt, aber nur ein bißchen, gell.

Und für den Sozialismus war er auch, der Vater, für die Gerechtigkeit, daß alle genug haben und nicht nur die Reichen gut leben. Und daß auch die Arbeiterkinder eine gute Schule haben und Bildung. Und daß man viel lesen soll, hat er gesagt.

Und dann hat er uns immer vorgesungen. Und am Abend, wenn's Zeit zum Schlafengehen gewesen ist, hat er gesungen:

"Meine liabm Kinderlein müassen recht artig sein, und müassen schlafen bis murgn in der Fruah."

Und dann ist er gestorben, weil er eine Rede gehalten hat im Schrebergartenverein, und es war so ein kalter Winter; und er hat sich so aufgeregt und zu laut geredet, und da hat er Lungenblähung gekriegt. Das war das Jahr, wo sogar die Donau zugefroren ist, da hat er ja müssen sterben.

Und ich hab solche Angst gehabt, wie sie ihn gebracht haben. Ich war ja erst zwei Jahre und ein bisserl. Ins Zimmer haben sie ihn gelegt, und niemand hat ihm mehr helfen können, und nach ein paar Tagen ist er gestorben. Und alle haben geweint, wie sie aus dem Zimmer gekommen sind. Und seither wollt ich nie mehr allein im Zimmer sein, immer nur in der Kuchl. Auch wie mir die Mama das Fuffzgerl versprochen hat, wenn ich allein ins Zimmer geh und den Leander ins andere Eck stell. Oleander muß man sagen in Wirklichkeit, gell? Das Fuffzgerl hab ich kriegt, aber ich hab trotzdem weiter Angst gehabt.

Aber gell, lieber Gott, so ist kein schlechter Mensch, und wenn die Mutter ihn lieb gehabt hat und deswegen böse ist auf dich, dann ist das nicht so schlimm, daß sie nicht in den Himmel kommen kann?

©VERLAG KERLE
im Verlag Herder & Co., Wien 1996
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