Das Ich II

Der zweiundachtzigste Abt versammelte eines Tages seine Schüler in der großen Halle. Neben sich hatte er eine Art Kasten von der Größe einer Telefonzelle oder Fahrstuhlkabine.

"Ich möchte euch eine Erfahrung vermitteln, die euch der Erleuchtung einen Schritt näher bringen wird. In einem alten Werk aus dem zwanzigsten Jahrhundert fand ich eine hypothetische Maschine beschrieben, die folgendes bewirken soll: Sie fertigt von dem, der sie betritt, eine absolut exakte Beschreibung an, und zwar nicht bloß seiner äußeren Erscheinung, sondern seines gesamten Aufbaus bis zur Stellung jedes einzelnen Atoms in seinem Körper. Sodann tötet sie den Insassen schmerzlos. Danach sendet sie den aufgezeichneten Bauplan per Funk an eine zweite Maschine, die sich an einem anderen Ort befindet. Die zweite Maschine erzeugt nun nach dem übermittelten Bauplan eine absolut identische Kopie der getöteten Person, die ihr nicht nur äußerlich gleicht, sondern auch über dieselben Erinnerungen verfügt.

Ich habe nun diese beiden Maschinen wirklich gebaut, und jeder von euch, der es wünscht, darf sie benützen, um dadurch der Erleuchtung einen Schritt näher zu kommen".

Tatsächlich fanden sich einige Mönche, die bereit waren, den Versuch zu wagen.

"Bedenke", sagte der Abt zu jedem, »du wirst getötet werden. Ein anderer wird für dich weiterleben. Jener andere wird freilich glauben, er sei du."

Einige der Mönche wurden von dieser Ermahnung doch abgeschreckt, sodaß sie von dem Experiment zurücktraten. Doch blieben ungefähr dreißig oder vierzig, die einer nach dem anderen die Maschine betraten. Nach einiger Zeit traten diese Mönche, - oder ihre identischen Kopien - aus einer zweiten Kabine, die sich am anderen Ende der Halle befand.

Neugierig wurden sie von den anderen Mönchen umringt. Äußerlich war ihnen nichts anzumerken, außer höchstens, daß einige von ihnen einen etwas verwirrten Eindruck machten, zweifelnd an sich herumtasteten oder hastig den großen Spiegel in der Vorhalle aufsuchten. Andere gaben sich betont unbeeindruckt und erklärten, daß es ein Kinderspiel sei, die Teleportation zu ertragen, und daß sie die Erfahrung nur jedem empfehlen könnten. Dabei blieb es im Wesentlichen an diesem Abend.

In den folgenden Tagen machten die meisten der Versuchspersonen jedoch eindrucksvolle Entwicklungen durch. Einer der Mönche begann an sich zu zweifeln und befürchtete, zu einem Roboter geworden zu sein. Er erklärte, bei dem Experiment seien zwar alle seine Eigenschaften und Erinnerungen übertragen worden, seine Seele jedoch sei dabei irgendwo abhanden gekommen. Ein anderer erklärte, die Möglichkeit dieses Experimentes beweise ihm, daß er schon vorher ein Roboter gewesen sei. Ein Dritter betrauerte den Tod seines "Vorgängers", wie er sich ausdrückte, der um eines dummen Experiments willen gestorben sei, ohne die Erleuchtung erlangt zu haben. Einige durchfahndeten ihren Geist nach allen Erinnerungen an ihr "früheres Ich", und verzweifelten daran, festzustellen, ob ihnen nun wirklich alle Erinnerungen geblieben waren. "Um festzustellen, daß mir eine Erinnerung fehlt", sagte beispielsweise einer dieser Mönche, "müßte ich ja eine Erinnerung an sie haben. Wenn mir diese Erinnerung nun aber so vollständig abhanden gekommen ist, daß ich nicht einmal mehr weiß, daß ich einmal diese Erinnerung hatte, wie soll ich dann feststellen, ob sie mir fehlt?"

Einige andere gingen noch weiter und sagten: "Ja, wie soll ich sagen, ob mir die Maschine nicht völlig falsche Erinnerungen eingepflanzt hat? Was heißt Erinnerungen! Wer sagt mir, ob sie mir nicht einen völlig falschen Körper, einen völlig falschen Charakter und die dazupassenden völlig falschen Erinnerungen gegeben hat? Lieber Mitbruder, bist du sicher, daß ich schon vor diesem Experiment diese große Nase und diese abstehenden Ohren hatte?"

Wieder andere gingen noch weiter und erklärten: "Und wie soll ich sagen, ob mich die Maschine nicht völlig neu geschaffen hat, komplett mit einem Satz Pseudoerinnerungen an eine Pseudovergangenheit?"

Einige aber erklärten, ihnen sei nun klar geworden, daß das "Ich" nur Täuschung sei.

Aber alle waren enttäuscht, als der Abt ihnen nach einiger Zeit erklärte, daß sie keineswegs von der Maschine getötet und wieder zusammengebaut worden waren. In Wahrheit hatten sie nur eine Dosis eines kurzzeitig wirkenden Betäubungsgases abbekommen, zwei eingeweihte Mönche hatten sie durch einen unterirdischen Gang in die andere Kabine geschleppt, und dort waren sie wieder zu sich gekommen.

"Ich fand es nicht für nötig, eine solche Maschine zu bauen", erklärte der Abt. "Wird nicht euer Körper beständig zerstört und neugeschaffen? Verliert ihr euer ,Ich‘ nicht jeden Abend, wenn ihr einschlaft, und findet ihr es nicht oft am nächsten Morgen nur mit einer gewissen Mühe wieder? (Besonders wenn ihr entgegen den Klosterregeln die Spelunken der Stadt aufgesucht habt!) Wer sagt euch, daß nicht ein Gott vor zwei Minuten diese Welt geschaffen hat, komplett mit Menschen, die Erinnerungen an eine scheinbare Vergangenheit in sich tragen, mit Städten und Bauwerken, die scheinbar Jahrhunderte brauchten, um gebaut zu werden, mit Pflanzen und Tieren, die scheinbar Jahrmillionen gebraucht haben, um sich zu entwickeln, mit Pseudofossilien in der Erde, die scheinbar die Existenz ausgestorbener Tierrassen beweisen, mit Sternenlicht, das scheinbar schon seit Jahrmilliarden zu uns unterwegs ist? Oder vielleicht hat dieser Gott nur dieses Refektorium geschaffen, in dem wir versammelt sind, und die Welt da draußen, an die wir uns scheinbar erinnern, existiert gar nicht? Wer sagt uns, daß dieser Gott nicht alle Augenblicke eine gänzlich andere Welt erschafft und im nächsten Augenblick wieder vernichtet, jeweils eine Welt mit einer langen Geschichte, die jedoch nur in den Erinnerungen ihrer Bewohner existiert? Wenn alle diese Täuschungen denkbar sind, und es unmöglich ist zu beweisen, ob sie Täuschungen sind oder nicht, ist dann nicht bewiesen, daß das Ich auf alle Fälle eine Täuschung ist?"

Nach dieser Rede sollen einige Mönche tatsächlich der Erleuchtung einen Schritt näher gekommen sein.