Die Amazonen

Wie wir schon früher gesehen haben, wendete Rabbi Eser die Gesetze der Evolution nicht bloß auf die biologische Natur des Menschen, sondern auch auf seine Kultur an. So stellte er einmal die Frage:

Warum wohl sind es die Männer, die in den Krieg ziehen, und nicht die Frauen? Warum gibt es keine Amazonen? Ist es, weil die Männer böse sind, die Frauen aber gut? Liegt es an den Hormonen? Oder daran, daß die Männer mehr Muskeln haben? Liegt es daran, daß die Frauen durch ihre Babys behindert sind oder durch ihre Schwangerschaft?

Ich erzähle euch ein Gleichnis: Zu einer Zeit lebten in einem Land ein Stamm von Kriegern und ein Stamm von Amazonen. Es waren freilich nicht solche Amazonen, von denen uns die griechische Sage berichtet, daß sie ihre Söhne töteten. Es war in diesem Stamm einfach Sitte, daß die Frauen in den Krieg zogen, während die Männer das Heim und die Kinder hüteten. Eines Tages kränkte der Fürst der Krieger die Königin der Amazonen. Die sandte ihm eine Botin mit der Botschaft: "Du hast mich zutiefst gekränkt, es muß Krieg geben. Schicke all deine sechzehnjährigen Krieger in die Schlacht, so werde ich alle meine sechzehnjährigen Kriegerinnen senden". Denn in diesen jungen Jahren hatten damals Krieger wie Kriegerinnen die höchste Kampfkraft. Tausend blühende Jünglinge zogen gegen tausend blühende Mädchen in den Kampf, und es war grauenhaft anzusehen, wie sie sich niedermetzelten, anstatt, wie es ihrem Alter gebührt hätte, miteinander das Liebesspiel zu treiben. Beide Heere waren gleich wütend und gleich stark, und so kam es zu keinem Sieg. Aber fünfhundert Jünglinge und fünfhundert Mädchen blieben tot auf dem Schlachtfeld. Es war ein Entsetzen ohnegleichen.

Im nächsten Jahr sandte die Königin wieder eine Botin an den Fürsten: "Unser Kampf ist nicht entschieden. Schicke wiederum deine Sechzehnjährigen gegen meine!" Und wiederum tobte der Kampf, und wieder waren die Heere gleich stark, und wieder blieben fünfhundert Jünglinge und fünfhundert Mädchen auf dem Feld.

Und so ging es Jahr um Jahr. Der Anlaß des Kampfes war längst vergessen, der Haß beherrschte die beiden Völker, niemand fragte mehr nach dem Grund für die jährliche Schlacht, sie war selbstverständlich geworden. Und jedes Jahr fiel die Hälfte der jungen Krieger und Kriegerinnen.

Die Jahre gingen dahin, und schon waren es die Söhne der ursprünglichen Kämpfer, die gegen die Töchter der ursprünglichen Kämpferinnen antraten. Doch da sahen die Amazonen mit Schrecken, daß sie nicht genug Kriegerinnen waren, um den Männern standzuhalten. Was war geschehen?

Jahr für Jahr waren fünfhundert Krieger aus der Schlacht heimgekehrt und hatten zu Hause tausend Mädchen ihres Alters vorgefunden. Auf der anderen Seite fanden fünfhundert Kriegerinnen in ihrem Stamm tausend heiratsfähige Männer vor. So hatte der Fürst der Krieger befohlen, daß ein Mann zwei Frauen, und die Königin der Amazonen, daß eine Frau zwei Männer nehmen sollte. Doch kann ein Mann leicht zwei Frauen schwängern, während eine Frau von zwei Männern auch nur ein Kind empfangen kann. So wurden bei den Kriegern in jedem Jahr gleich viele Kinder geboren wie zuvor, denn die Zahl der Frauen hatte sich ja nicht vermindert. Dem Stamm der Amazonen aber wurden von Jahr zu Jahr weniger Kinder geboren, da die Zahl der Frauen von Jahr zu Jahr abnahm.

So kam der Tag, an dem die Krieger den Kriegerinnen unschlagbar überlegen waren.

Kann sein, sie haben sie ausgerottet. Kann sein, sie haben den feindlichen Stamm versklavt. Kann sein, sie haben sich auch mit ihnen vereinigt und ihre überzähligen Frauen den überzähligen Männern der Amazonen gegeben. Es muß nicht sein, daß die Amazonen und ihre Nachkommen ausgestorben sind. Aber ihre Sitte, die Frauen in den Krieg zu schicken, mußte aussterben.