Mandragora und die Logik

"Mandragora offizinarum, die Alraune", so erzählte Rabbi Ephraim Eser, "galt früher als Zauberwurzel. Sie gab alten Männern ihre Potenz zurück, bewirkte wundersame Geldvermehrung und gestattete überhaupt ihrem Besitzer allerhand Zaubereien. Allerdings: wer starb, solange er im Besitz des Galgenmännleins war - so wurde die Wurzel auch genannt, weil sie menschenähnliche Gestalt hatte und angeblich unterm Galgen wuchs - wer also als Alraunenbesitzer starb, den holte der Teufel. Man mußte also trachten, die Alraune rechtzeitig wieder loszuwerden. Verlieren, wegwerfen oder verschenken galt allerdings nicht. Das Galgenmännlein mußte verkauft werden. Und zwar - diese Regel hatte der Teufel schlauerweise erfunden - mußte man sie billiger verkaufen, als man sie gekauft hatte, und diese Regel auch dem Käufer mitteilen. Der Teufel rechnete natürlich damit, daß die Alraunen schnell von Hand zu Hand gehen würden, weil jeder trachten würde, sie loszuwerden, nachdem er seine Wünsche mit ihrer Hilfe erfüllt hatte. So mußte der Preis sehr schnell auf ein Niveau sinken, das nicht mehr unterboten werden konnte, und der Teufel bekam wieder einmal eine Seele. Halbe und Viertelpfennige akzeptierte der Teufel nämlich nicht, der Kaufpreis mußte in gültigen Münzen oder Scheinen beglichen werden.

Nun stellt sich die Frage: bis zu welchem Preis ist es halbwegs sicher, eine Alraune zu erwerben? Sicher besteht immer die Möglichkeit eines Unfalls oder einer plötzlichen Erkrankung, die zum Tod führt. Aber wir wissen ja alle, daß kein Mensch je sein Leben im Hinblick darauf einrichtet, daß er jeden Moment sterben könnte. Wir können jedenfalls annehmen, daß jemand, der so denkt, sowieso viel zu fromm ist, um überhaupt den Erwerb einer Alraune in Erwägung zu ziehen. Wir wollen also davon ausgehen, daß Zeit genug bleibt, die Alraune zu verkaufen, und uns nur die Frage nach dem Preis stellen, der uns erlaubt, sie weiterzuverkaufen. Dürfte ein logisch denkender Mensch also eine Alraune um - sagen wir - 500 Gulden kaufen? Sicher, werdet ihr sagen, er wird doch keine Schwierigkeiten haben, einen Käufer zu finden, der sie um 499 Gulden und 99 Pfennige nimmt. Denn dieser, so werdet ihr argumentieren, wird doch keine Schwierigkeiten haben, einen Käufer zu finden, der sie um 499 Gulden, 98 Pfennige nimmt. Denn auch diesen, so werdet ihr zu bedenken geben, trennen noch immer 49.997 mögliche Käufer von jenem theoretischen letzten armen Schlucker, der die Alraune um einen einzigen Pfennig erwerben und folglich nicht mehr weiterverkaufen können wird. Sicherlich aber - so versichert ihr mir - würdet ihr niemals dieser Letzte sein. Kein logisch denkender Mensch würde eine Alraune um einen Pfennig erwerben, da ihm klar sein müßte, daß er sie nicht mehr weiterverkaufen könnte. Aus diesem Grund freilich dürfte ein folgerichtig denkender Mensch die Wurzel auch nicht um zwei Pfennige kaufen, da ihm klar wäre, daß ihm keiner die Wurzel für einen Pfennig abnehmen würde. Wenn sie aber keiner um zwei Pfennige nimmt, dann darf man sie auch um drei Pfennige nicht kaufen, und wenn sie um drei Pfennige keiner nimmt, darf man sie nicht um vier Pfennige kaufen, wenn einem sein Seelenheil lieb ist. Und so geht es weiter, und ihr seht: ein logisch denkender Mensch, der davon ausgeht, daß alle anderen auch logisch denken, könnte nie eine Alraunwurzel kaufen, und wäre der Preis noch so hoch und scheinbar noch so weit vom tödlichen Minimum entfernt. Doch die menschliche Habgier ist stärker als jede Logik. Ich werde euch sagen, welchen Preis ich für sicher halte: Es mag schwer sein, einen Selbstmörder zu finden, der die Wurzel für einen Pfennig nimmt. Einen Trottel, der sie für zwei Pfennige nimmt, findet man allemal. Also würde ich die Alraune für drei Pfennige nehmen. Und mehr ist auch die menschliche Logik nicht wert, gerade drei Pfennige."