Die Brücke

Diese Erzählung wird dem einundzwanzigsten Abt zugeschrieben. Seltsamerweise läßt der Wortlaut der Legende aber auf eine Frau als Sprecherin schließen:

Der Ort wo ich lebte, lag an einer Schlucht, über die eine Brücke führte. Die Schlucht war sehr tief und breit, und die Brücke war wohl äußerst lang, ja, sie muß sehr lang gewesen sein, denn man konnte ihr Ende nicht sehen. Obwohl diese Brücke direkt auf unseren Marktplatz oder von ihm weg führte, wurde sie von uns nie betreten, ja kaum jemals erwähnt. Man verabredete sich höchstens einmal um fünf bei der Brücke, aber sonst spielte sie in unserem Leben keine Rolle. Niemand dachte darüber nach, wo sie wohl hinführte, was da drüben wohl sein könnte. Unsere Kontakte verbanden uns mit den Orten jenseits des Waldes, der unsere Stadt auf der anderen Seite einschloß. Dahinter erstreckte sich ein weites Land, aus dem wir die Waren bezogen, die wir brauchten, wohin unsere Kinder auf die höheren Schulen geschickt wurden, wo manche von ihnen später Arbeit suchten und sich niederließen. Dorthin hatten wir verwandtschaftliche oder geschäftliche Beziehungen, dorthin führten unsere Reisen. Vielleicht deshalb, weil alle unsere Interessen in die eine Richtung gebunden waren, war die Brücke, und das, was sich möglicherweise auf der anderen Seite befand, ohne jede Bedeutung für uns.

Manchmal kamen stille, zigeunerhafte Wesen von drüben über die Brücke, huschten, leise miteinander schwatzend und einander zunickend, durch die Stadt, und verloren sich irgendwo in den Wäldern oder im Land, das jenseits der Wälder lag. Wir kümmerten uns nicht um sie, wenn sie herüberkamen, sondern gingen weiter unseren Geschäften nach. Wo sie hingingen, wußte niemand.

Später wurde die Stadt aufgegeben. Es kam der Befehl, binnen drei Monaten die Stadt zu verlassen, wir würden anderswo angesiedelt werden. Ich war eine der letzten, die fortgebracht wurden, es hatte Schwierigkeiten gegeben, Familienangehörige von mir zu finden in dem Land jenseits des Waldes. Ich sah das Sterben der Stadt. Die unbewohnten Häuser stürzten überraschend schnell ein, die Straßen brachen auf und Grasbüschel sprossen in den Spalten, der Stadtbrunnen bemooste sich, Gestrüpp wucherte überall. Als die letzten Menschen fortgebracht wurden, sah die Stadt aus, als wäre sie schon jahrhundertelang verlassen. Später wurde auch verboten, von ihr zu reden.

Einige meinten, das sei wegen der Brücke gewesen.