Über Unsterblichkeit

"Warum können wir nicht unsterblich sein?" fragte ein Schüler den sechzehnten Abt. "Und wenn wir schon nicht unsterblich sein können, warum müssen wir dann den Tod so fürchten?"

Der sechzehnte Abt war aber Darwinist und antwortete folgendermaßen: "Deine zweite Frage ist leichter zu beantworten: alle Arten, die den Tod nicht fürchteten, sind schon lange ausgestorben. Wie könnte es Leben geben, wenn das Leben nicht alles täte, um dem Tod zu entgehen? Die den Tod nicht fürchten, sind schon tot. Vielleicht haben sie das bessere Teil erwählt.

Warum aber müssen die Individuen sterben? Die Arten, die den natürlichen Tod des Individuums nicht einprogrammiert haben, müssen irgendwann einmal ihren ökologischen Raum vollständig ausfüllen und gehen dann an Überfüllung, Nahrungsmangel, Luftmangel oder sonstwas zu Grunde. Außer, es reduziert sich bei ihnen gleichzeitig die Nachkommenschaft auf ein Mindestmaß, das gerade genügt, die gewaltsamen Todesfälle zu kompensieren. Eine gröbere Änderung der Umweltbedingungen wird diese Art jedoch nicht überleben, da bei der kleinen Zahl ihrer Nachkommen die Chance natürlich äußerst gering ist, daß zufällig besser angepaßte Individuen darunter sind. Das heißt, diejenigen Arten haben die besten Chancen, sich weiter zu entwickeln, bei denen die Generationen gerade im richtigen Tempo aufeinander folgen, um den sich ändernden Umweltbedingungen durch Selektion gerecht werden zu können. Auf einem jungen Planeten werden also die Arten mit zuwenig Lebenswillen des Individuums und die Arten mit zuviel Lebenswillen des Individuums ausgerottet. Die Selbstmörder gleichermaßen wie die Unsterblichen.

Welch seltsames Paradoxon: ,Die Unsterblichen werden ausgerottet.‘

Nur auf einem längst zur Ruhe, bzw. ins Gleichgewicht gekommenen alten Planeten hätte die Unsterblichkeit des Individuums überhaupt eine Chance. Oder aber in einer von intelligenten Lebewesen künstlich stabil gehaltenen Umwelt. Aber selbst die Unsterblichen müßten eine Nachkommenschaft zeugen, wenn auch sehr beschränkt, um Unfälle und Krankheiten (die dann vielleicht auch als Unfälle gelten würden) zu kompensieren.

Was aber wäre denn an der Unsterblichkeit so erstrebenswert? Natürlich vor allem die Möglichkeit, daß das Individuum sich weiter und weiter entwickeln könnte. Sicherlich sind die Kombinationsmöglichkeiten in unserem Hirn so zahllos, daß das bisherige Alter des Universums nicht ausreichen würde, um alle Gedanken zu denken, die zu denken möglich wäre. Insofern würde es sich schon lohnen, zumindest eine halbe Ewigkeit zu leben.

Allerdings fragt es sich, wieviel Spaß es machen würde, eine halbe Ewigkeit lang immer neue Gedanken zu denken, wenn man die alten doch immer wieder vergessen müßte. Denn die Gedächtnisspeicherkapazität des Gehirns ist ja unendlich viel früher ausgeschöpft, als die Denkfähigkeit.

(Warum das so ist? Ich will dir ein Beispiel geben: die ganze Menschheit würde vermutlich nicht lange genug existieren, um ein Paket Spielkarten in allen möglichen Reihenfolgen auszulegen. So unvorstellbar viele Kombinationsmöglichkeiten von nur 52 Karten gibt es. Aber wollte eins die Spielkarten benützen, um Telefonnummern damit zu notieren, indem eins die entsprechenden Zahlenwerte nebeneinander auf den Tisch legte, würde eins mit einem Paket Spielkarten nicht sehr lange auskommen.)

Gäbe es Unsterbliche, dann dürften sie nichts an den einmal von ihnen gefundenen idealen Lebensbedingungen, an die sie angepaßt sind, ändern. Das heißt, ihre ,ständige Weiterentwicklung‘ würde eine rein akademische sein. Man könnte sich vorstellen, daß sie auf dem materiell-körperlichen Gebiet eben bleiben was sie sind, während sich ihre Entwicklung im Geistigen abspielt. Dem halte ich entgegen, daß ihre geistige Weiterentwicklung vermutlich eine ,akademische‘ sein müßte, in dem Sinn eben von praktisch folgenlos, und zwar folgenlos auch auf dem Gebiet der geistig-seelischen Praxis. Denn ich glaube nicht, daß biologisches Angepaßtsein sich nur auf das rein Materielle bezieht. Biologisches Angepaßtsein bezieht sich auch auf das emotionelle und geistige Leben der Art. Also würde die individuelle Weiterentwicklung der Unsterblichen doch irgendwann zu dem Punkt kommen, wo sie die Umwelt verändert, das gesamte Gefüge von geistiger und materieller Umwelt. Und dann? Wir haben jetzt schon das Problem, daß wir eine künstliche Umwelt geschaffen haben, an die wir biologisch nicht angepaßt sind. Wir sind biologisch nicht angepaßt daran, die weltzerstörerische Macht der Atomwaffen zu besitzen. Aber wir haben diese Macht, und von einem gewissen Standpunkt aus könnte man sagen, es ist gut, daß wir so kurzlebig sind als Individuen, das gibt doch noch Hoffnung, daß die neue Generation, die dieser Verantwortung gewachsen sein wird, zur Welt kommt, bevor wir die Menschheit und das Leben auf dem Planeten ausgerottet haben.

Wie wird es aber den Unsterblichen gehen, wenn ihr geistiges Potential sie in Bereiche führt, denen ihr körperliches und seelisches Potential nicht gewachsen ist? Sie haben keine Chance auf eine nachkommende, den von ihnen geschaffenen Gegebenheiten angepaßte Generation. Vermutlich wird also auch eine intelligente unsterbliche Art sehr schnell wieder aus der Welt verschwinden.

Ist das ein Trost? Ich muß leben wollen, und ich muß sterben. Und weil ich mir dieses Lebenwollens bewußt bin, empfinde ich das Sterbenmüssen als tragisch. Aber warum hat mir die Natur nicht auch den Wunsch zu sterben mitgegeben, beziehungsweise die beiden Triebe miteinander vereint zu dem Wunsch, sagen wir, genau siebzig Jahre zu leben? Nicht kürzer, aber auch nicht länger? Da stellt sich nun die Frage: Ist der Tod explizit oder implizit vorprogrammiert? Gibt es ein Gen oder eine Genkombination, die als innere Uhr funktioniert und nacheinander die verschiedenen Funktionen abschaltet? Oder ist es eine gewisse Schlampigkeit im Bau- und Funktionsplan, die dazu führt, daß die Zellen nicht in dem Tempo erneuert werden, in dem sie sich abnützen, und der Körper langsam verfällt? Das Zweite scheint der Fall zu sein. Die ganze Evolution scheint ja auf ständigem Zubau und Anbau an Bestehendes zu beruhen, und deswegen sind wir Menschen zum Teil so unlogisch aufgebaut wie ein alter englischer Landsitz, zu dem in jedem Jahrhundert ein Trakt dazugekommen ist. Offenbar konnten die Arten, die zwar prinzipiell die Unsterblichkeit anstrebten, aber dabei nicht zu perfekt waren, ihre Lebensdauer am leichtesten den jeweiligen Erfordernissen des laufenden Jahrzehntausends anpassen.

Wenn es aber kein Todesgen, kein Todeshormon gibt, wenn der Tod nicht explizit im Programm der Säugetiere vorgesehen ist, dann ist auch verständlich, warum in der Entwicklung zum Menschen nur der Lebenstrieb zum Bewußtsein gekommen ist. Wenn der Tod nur Folge der Unperfektheit unseres Organismus ist (die eben aus den erwähnten Gründen herausselektioniert worden ist), dann kann es auch keinen bewußten oder unbewußten Todestrieb geben, der uns helfen würde, den biologisch notwendigen Tod zu akzeptieren.

Die Evolution kümmert sich nicht darum, ob wir mit einer Tragödie fertig werden müssen oder nicht. Die Erfindung des Schmerzes hat sich für das Weiterleben der Arten als nützlich erwiesen, päng, haben wir ihn, und die Evolution kümmert sich einen Dreck darum, daß der Schmerz, so nützlich er ist, weh tut.

Es hat sich herausgestellt, daß Schmerz, Angst und Tod den Arten das Weiterleben erleichtern, also bleiben sie uns. Vielleicht entsteht eines Tages eine so intelligente und bewußte Art, die Schmerz und Angst nicht mehr nötig hat und aus purer Vernunft immer das für das Überleben der Art Richtigste tut.

Trotzdem, ist das alles ein Trost? Irgendwo schon. Irgendwo bezieht sich mein Überlebenswille nicht bloß auf mich, sondern auf die Art. Ein Teil meines Lebenswillens ist der Wunsch, nicht allein zu sein. Damit muß auch der Wunsch verbunden sein, daß andere leben mögen. Das hängt auch mit dem Fortpflanzungstrieb zusammen, der ja nicht nur aus der Lust am Bumsen besteht, sondern auch aus einem Pflegetrieb, der Freude am heranwachsenden Leben, der Freude am Lehren und Helfen und Schützen.

Das Gefühl der Solidarität mit der ganzen Art ist da, und so ist es auch ein kleiner Trost für mich, daß der Tod dem Leben dient."