Die Epidemie

Dies ist eine Erzählung des neunzehnten Abts:

Nachdem die Cholera und der Typhus endlich überwunden waren, und die Folgen des letzten Erdbebens gerade beseitigt, wurde unsere Stadt von einer Kinderplage heimgesucht. Keiner wußte so recht, woher sie kamen. Krochen sie aus den Kanälen, oder spien die Wälder sie aus? Binnen weniger Tage war die Stadt von Horden herrenloser Kinder überschwemmt. Kinder aller Alter waren es, Rotznasen, die Zigarettenstummel rauchten, Kleinchen, die kaum ihre ersten Wörter lallten... Die größeren schleppten Babys auf dem Rücken oder führten kleinere an der Hand, manche kamen in Zügen von einem Dutzend oder mehr, eins am Rockzipfel des andern sich festhaltend. Sie überschwemmten die Straßen und Plätze der Stadt, hockten in Torwegen und unter Vordächern, krochen in den Parks auf dem Rasen herum, belagerten die öffentlichen Brunnen und ebenso die Toilettenanlagen. Obwohl sie kaum schrien, erfüllte ihre bloße Masse die Straßen mit einem ständigen Gesumm und Gebrause, ihr Durcheinandergehen und Laufen, ihr in sich versunkenes Hocken an den unmöglichsten Stellen machte die Gehsteige unpassierbar. Da schritten sie, von einem größeren Mädchen angeleitet, einander an den Händen haltend im Kreis, hin und wieder auf einem Bein hüpfend oder leise in die Hände klatschend, dort saßen sie in Knäuel zusammengedrängt und flochten einander mit stiller Konzentration schmutzige Bänder in die Haare. Manche schoben nach undurchschaubaren Regeln einen Stein hin und her, wobei sie eine Hand auf den Rücken gebunden hatten, oder sie spielten ein Spiel, bei dem sie einander in rascher Abfolge eine gewisse Anzahl von Schlägen auf verschiedene Körperteile versetzten, oder mit kleinen Messerchen blitzschnell zwischen den gespreizten Fingern der auf die Erde gelegten Hand hin und her hackten.

Alle Versuche, mit den Kindern Kontakt aufzunehmen, schlugen fehl. Sie schienen weder zu verstehen, was man zu ihnen sagte, noch daran interessiert zu sein, sich verständlich zu machen. Dabei schien, was man von ihren Zurufen, von ihren Spielliedchen aufschnappen konnte, doch aus Wörtern unserer Sprache zu bestehen, wenn auch nie jemand etwas Zusammenhängendes verstehen konnte.

Die Kinder ließen sich von den Beamten der städtischen Waisenhäuser und der Kinderfürsorge, die zunächst mit dem Problem betraut worden waren, ohne Umstände in rasch freigemachte Unterkünfte führen. Allerdings waren das Spital und das Gefängnis bald überfüllt, ebenso die Schulen und Pfarrsäle, obwohl die Kinder, deren immer zunehmende Menge ja überhaupt nicht überwacht werden konnte, aus den Unterkünften fast ebenso rasch wieder herausquollen wie man sie hineinführte. Bald wurde auch die Polizei eingeschaltet, deren Machtlosigkeit sich allerdings schnell erwies. In den rasch gebildeten Krisenstab wurden auch die Feuerwehr und das örtliche Armeekommando mit einbezogen. Man bewachte die Einfallstraßen, den Fluß, die Kanäle, um vor allem einmal den Zuzug weiterer Kindermassen abzuwehren. Sogar die Luftraumüberwachung wurde aktiviert. Trotzdem sickerten ständig neue Trupps von Kindern durch. Wenn die Armeeabteilungen an der Stadtgrenze einen Trupp verjagten, kam hinter ihrem Rücken ein anderer herein.

Anfangs gingen die Bürger der Stadt noch mit Brot und Milch unter die Kinderscharen, um sie zu ernähren. Ganz am Anfang holten sogar einzelne Frauen Kinder zu sich, um sie in ihre Familien aufzunehmen. Später aber schloß man sich in die Häuser ein, manche verbarrikadierten sich sogar regelrecht, um die Plage draußen zu halten.

Die Kinder, die früher kaum zudringlich, ja eher scheu gewesen waren, wurden nun, durch ihre bloße Menge, von den Straßen in die Vorgärten gedrängt, und öffnete man eine Haustür, so war es kaum möglich, sie wieder zu schließen, ohne daß ein oder zwei Kinder schon im Hausflur hockten.

Die Bürger der Stadt konnten kaum mehr ihrer Arbeit nachgehen. Der Verkehr lag vollkommen lahm, der Wochenmarkt mußte abgebrochen werden, weil alles Eßbare sofort von den Kindern still weggenommen und verzehrt wurde.

Allerlei Theorien über die Herkunft der Kinderplage kursierten, doch keine konnte bestätigt werden. Es war nicht herauszufinden, ob sie vor einer Naturkatastrophe, einem Krieg oder einem Bürgerkrieg geflohen waren, ob sie von ihren Eltern ausgesetzt oder von einer feindlichen Macht geschickt worden waren um die Stadt für eine Eroberung reif zu machen, oder ob sie eine durch Mutation entstandene neue Rasse waren, die sich im kindlichen Zustand vermehrte.

Nach zwei bis drei Wochen war der Spuk verschwunden, ebenso unerklärlich, wie er begonnen hatte. Nur mehr vereinzelt wurden in Kanalrohren, unter Brücken oder in öffentlichen Toilettenanlagen noch Reste der Kinderschar gefunden. Bald war die Stadt von ihnen völlig gesäubert.

Erst nach einiger Zeit machte sich eine wachsende Unsicherheit unter den Bürgern bemerkbar. Niemand von uns konnte mit Überzeugung sagen, ob die Kinder, die in unseren Häusern zurückgeblieben waren, unsere eigenen waren oder nicht.