Von Beeren und wilden Früchten

Diese Predigt wird dem achten oder neunten Abt zugeschrieben. Sie scheint jedenfalls aus einer Zeit zu stammen, als das Kloster sich noch auf der Erde befand:

Was ist das doch für eine Freude, wenn wir einen Brombeerschlag finden im Wald, einen wilden Kirschbaum, Erdbeeren am Wegrand oder Himbeersträucher.

Mit welcher Glückseligkeit werfen wir uns in die Dornenhecken und pflücken uns die saftprallen Früchte handvollweise in den Mund. Und es ist, als ob wir nichts Besseres kennten, wir, die wir doch die seltensten Früchte aller Kontinente in unseren Supermärkten ausgestellt finden.

Ist es, weil wir von dem Wandern in frischer Luft hungrig geworden sind, oder weil Früchte nur ganz frisch gepflückt das schönste Aroma haben? Sicher auch.

Oder ist es, weil wir geizig sind und diese Früchte uns nichts kosten? Vielleicht. Aber vieles, was wir gratis bekommen, nehmen wir mit einem Achselzucken hin. Denn auch das Schild, auf dem "gratis" geschrieben steht, ist ein Preisschild. Diese Früchte aber tragen gar kein Preisschild. Sie sind nicht einmal gratis. Sie sind einfach da. Keiner hat sie gepflanzt, gepflegt, begossen, keiner sagt: "Sie gehören mir", keiner handelt mit dir darum, und es schenkt sie dir auch keiner. Und weil sie kein Preisschild tragen, darum sind sie auch wirklich ganz und gar sie selbst. Sie sind Himbeeren oder Kirschen oder Brombeeren, und keiner sieht in ihnen so und so viele Tael, Yen oder Rubel, die wiederum soundsoviele Paar Schuhe sind oder soundsoviele Dosen Rasierschaum. Denn die Kiwis und Papayas und Mangos im Supermarkt sind eigentlich nichts anderes als Rasierschaum oder Weichspüler. Sie sind soundsoviele Tael und bringen soundsoviel Gewinn. Aber die Himbeeren im Wald, die sind Himbeeren. Himbeeren und sonst nichts, ganz und gar Himbeeren.

Niemand hat für sie geschwitzt, sich Sorgen gemacht, ob sie auch gedeihen werden dieses Jahr, niemand hat sich für sie den Dünger vom Mund abgespart oder sich im Hinblick auf die Ernte einen Kredit genommen. Sie sind einfach gekommen, und jetzt sind sie da, und alles, was du zu tun brauchst, ist, den Arm auszustrecken und ein bißchen vorsichtig mit den Dornen zu sein, dann kannst du sie dir in den Mund stopfen, bis dir der Saft bei den Mundwinkeln herausrinnt, und sie sind nichts als Süße und Kühle und Duft und Vitamine.

Das ist es, was uns so glücklich macht im Himbeerhag, das paradiesische Essen von den Früchten des Waldes, der göttliche Überfluß. Ob du nun ein paar saftige Beerlein naschst oder frißt, daß dir der Bauch platzt, der Brombeerschlag ist unerschöpflich. Keiner hat noch einen Brombeerschlag leergefressen, und während wir die schwarzen pflücken, sehen wir die roten und grünen, die morgen und übermorgen reif sein werden. Wir sind wieder zurück im alten Garten Eden, wo allen alles gehörte, und wo die Menschen noch nicht die Arbeit kannten, die ihnen das Essen verschaffte, weil ihre einzige Arbeit das Essen war.

Zieh die Früchte des Kirschbaumes mit dem Mund vom Ast, und du wirst erleben, wie auch der Unterschied verschwindet von Arbeit und verbrauchen. Du pflückst nicht, um nachher zu essen. Pflücken ist Essen und Essen ist Pflücken, und der Fluch des "um zu" ist für einige Minuten aufgehoben.