Hüpfen

»Hüpfen«, sagte Popol der Alte, »hüpfen war angeblich die Lieblingsbeschäftigung des ersten Abtes. Er hüpfte von früh bis spät. Er bewegte sich kaum jemals anders vorwärts als beidbeinig hüpfend. Er hoppelte wie ein Hase in einer langen Soutane durchs Kloster und durchs Leben. Und er unterwies seine Schüler im Hüpfen. In den ersten Jahrzehnten des Klosters wurde dort praktisch nur gesprungen und gehüpft.

Der erste Abt hielt das Hüpfen für die grundlegende Meditationsübung.

"Hüpfe in die Höhe", sagte er, "und konzentriere dich auf die Bewegung. Das ist die erste Übung. Fühle, wie du steigst, erst schnell, dann immer langsamer. Dann bleibst du in der Luft stehen, einen Moment lang nur, einen Augenblick, eine unendlich kurze Zeit. Und dann fällst du wieder, erst langsam, dann immer schneller, bis der Erdboden deinen Fall aufhält. Und nun konzentriere dich auf den Punkt des Stillstands, auf den Augenblick der Schwerelosigkeit. Dieser Augenblick hat keine Ausdehnung in der Zeit, er ist unendlich kurz. Ebenso wie der Punkt des Stillstands - auf den Schwerpunkt deines Körpers bezogen - keine Ausdehnung im Raum hat, unendlich klein ist. Von den unendlich vielen Punkten, die du auf deiner Reise durch den Raum durchquerst, ist dieser Punkt einzigartig. Von den unendlich vielen Augenblicken, die deine Reise währt, ist dieser Augenblick der Schwerelosigkeit einzigartig. Darum läßt sich dieser Punkt, darum läßt sich dieser Augenblick leichter wahrnehmen als irgendein anderer, x-beliebiger Punkt des Raumes, als irgendein anderer, x-beliebiger Augenblick der Zeit. Darum: sobald es dir gelingt, die absolute Schwerelosigkeit deines Körpers wahrzunehmen, den Zeitpunkt, in dem du weder steigst noch fällst, sobald dir das gelingt, hast du den Augenblick wahrgenommen. Den Augenblick aber wahrzunehmen, den einzelnen, isolierten, unendlich kurzen Augenblick, ist die erste Stufe zum Wahrnehmen der Ewigkeit".

Unter dem zweiten Abt hätte man das Kloster eher für ein Trainingslager eines Leichtathletikvereins halten können als für ein Kloster der Erleuchtung. Alles, was mit Springen und Hüpfen zu tun hatte, wurde dort betrieben: Hochsprung, Weitsprung, Hürdenlauf, Turmspringen, Ein-Meterbrett, Dreimeterbrett, Stabhochsprung, Seilspringen...

Erst der dritte Abt machte mit diesem Unfug Schluß. Er erklärte jede Art zu hüpfen für weltlich und der Erleuchtung nicht dienlich, außer dem beidbeinigen, senkrechten Hüpfen in die Höhe. Insbesondere die sogenannten Abwärtssprünge, (also das Turmspringen und so weiter) wurden als verwerfliche Irrlehre gebrandmarkt. Nur das Hochspringen würde ja zu dem Punkt des absoluten Stillstands führen. Sprünge über einem halben Meter wurden auch nur Novizen gestattet, die ja noch länger brauchten, um sich auf den Moment des Stillstands einzustimmen. Mönche, die das Gelübde abgelegt hatten, mußten sich mit niedrigeren Sprüngen begnügen. Schließlich dauert der Augenblick der Schwerelosigkeit auch bei einem Fünfzentimetersprung nicht länger oder kürzer als bei einem Zweimetersprung.

Zu guter Letzt kam es soweit, daß ältere und gesetztere Mönche nur mehr auf den Zehen wippten, oder gar stillstanden und behaupteten, sie machten unendlich viele unendlich niedrige Sprünge und würden so eine kontinuierliche, andauernde Schwerelosigkeit erreichen.

Eine kleine Zahl der Mönche trauerte aber insgeheim doch dem zweiten Abt nach. In seiner Amtszeit hatte das Kloster immerhin elf Olympiasieger und neun Weltmeister in verschiedenen Sprungdisziplinen gestellt, von denen einige später auch noch schöne Karrieren in der Werbung machten.«