Fußtritte

Wahrhaft erschütternd das Beispiel der Kreiselwespe Bembex rostrata. Die Kreiselwespe gräbt mit ihren Beinen bis zu einen Meter lange Gänge, legt an deren Ende nach und nach mehrere Bruthöhlen an. Bembex muß ihre Larven ständig mit Fliegen und Schwebfliegen versorgen. Die Versuche betrafen das Orientierungsvermögen der Insekten. »Sie besitzen eine besondere Fähigkeit, eine Art von topographischem Gefühl, von dem wir uns unmöglich eine Vorstellung mache können, da wir nichts in uns haben, was einem solchen entspräche. An der Hand meiner Versuche werde ich nun darlegen, wie fein und deutlich dieses Gefühl in seinem engbegrenzten Wirkungsbereich ist, wie beschränkt und stumpf aber, wenn es aus den gewohnten Bedingungen, unter denen es ausgeübt wird, heraustreten muß. Es ist dies die unveränderliche Antithese des Instinkts. Eine Kreiselwespe (Bembex rostrata), die eifrig für ihre Larve Nahrung herbeizuschaffen bemüht ist, verläßt ihr Erdloch. Sie wird binnen kurzer Frist mit dem Ertrag ihrer Jagd zurückkehren. Den Eingang hat sie vorher aus Gründen der Sicherheit sorgfältig mit Sand verstopft, den das Insekt rückwärts gehend hineingescharrt hat. Nichts unterscheidet die verborgene Mündung jetzt von der übrigen sandigen Bodenfläche. Dies schafft jedoch für den Hautflügler selbst keine Schwierigkeit, seine Tür mit der schon oben von mir hervorgehobenen unfehlbaren Sicherheit wiederzufinden. Um die Wespe irrezuführen, bedecke ich die Stelle mit einem flachen Stein von der Größe einer Hand. Bald trifft die Wespe wieder ein, doch die gründliche Veränderung, die während ihrer Abwesenheit am Eingang ihrer Behausung vor sich gegangen ist, scheint in ihr nicht das mindeste Zögern hervorzurufen; sie läßt sich sogleich auf dem Stein nieder und versucht einen Augenblick lang zu graben - genau an der Stelle, die sich über der Mündung der Galerie befindet. Die Härte des Hindernisses bringt sie jedoch sofort von diesem Vorhaben wieder ab; dann überschaut sie den Stein nach allen Richtungen, geht um ihn herum, schiebt sich unter ihn und begibt sich daran, in der genauen Richtung ihres Nestes zu graben.« Auch eine zolldicke Schicht von frischem Pferdemist kann das Tier nicht beirren, ebensowenig eine ausgedehnte Lage Moos, mit Äther begossen, um den vielleicht als Führer dienenden Geruchssinn zu täuschen. Eine ihrer Fühler beraubte Wespe findet das Nest unbeirrt. »Nun war ich am Ende meiner Kriegslisten angelangt, vermochte aber weniger denn je zu verstehen, wie sich das Insekt - wenn es nicht einen besonderen Führer in irgendeiner uns unbekannten Fähigkeit besitzt - zum Nest heimfinden kann, nachdem die Möglichkeit, es zu sehen oder zu riechen, durch meine Listen beseitigt wurde. Wenige Tage später versuche ich, das Problem unter einem neuen Gesichtspunkt in Angriff zu nehmen. Es handelt sich darum, die unterirdische Galerie der Kreiselwespe in ihrer ganzen Ausdehnung bloßzulegen, ohne im übrigen etwas daran zu verändern.« Mit einem Messer legte der Forscher den Gang bloß, verwandelte ihn in eine offene Rinne. Wie würde sich nun die Mutter bei ihrer Heimkehr verhalten? »Um nicht zu viele Punkte gleichzeitig ins Auge fassen zu müssen, ist es zweckmäßiger, diese Frage zu teilen. Die Mutter kehrt zum Nest zurück, um ihrer Larve Nahrung zu bringen; um aber zu dieser Larve zu gelangen, muß sie zuerst die Tür auffinden. Larve und Eingang - das sind die beiden Punkte, die meiner Meinung nach gesondert untersucht werden müssen. Ich nehme also das Würmchen und seinen Proviant aus der Nische fort, so daß das Ende des Ganges ein leerer Raum wird. Der heimkehrende Hautflügler geht unmittelbar auf die jetzt fehlende Tür los, von der nur noch die Schwelle vorhanden ist. Dort sehe ich ihn eine gute Stunde lang oberflächlich graben und den Sand mit seinen Füßen fortkehren, nicht um eine neue Galerie auszuheben, sondern auf der Suche nach dem früheren Verschluß aus leicht zu bewegendem Sand, der unter dem leisen Druck seines Kopfes wich und den Weg ins Innere freigab. Statt dieses beweglichen Materials findet die Kreiselwespe festen Boden und forscht nun an der Oberfläche weiter, immer aber ganz dicht bei dem Punkt, wo die Tür zu finden sein müßte. Diese Stelle, an der sie schon zwanzigmal vergeblich sondiert und gefegt hat, untersucht sie immer von neuem wieder, so hartnäckig hält sie an der Überzeugung fest, daß dort und nicht anderswo der Eingang sein müsse.« Über eine Stunde lang irrt die Wespe herum, durchläuft sogar die Rinne bis zur offen liegenden Brutkammer, kehrt aber immer wieder zum Punkt des verlorengegangenen Eingangs zurück. »Was wird aber in Gegenwart der Larve geschehen? Das ist der zweite Teil der Frage.« Das Nest einer anderen Wespe wird freigelegt, die Larve aber darin belassen. »Alles ist an der Behausung in Ordnung geblieben - bloß das Dach fehlt. Trotzdem wiederholt auch diese Mutter ganz unverändert die vorher beschriebenen Bewegungen. Sie läßt sich genau auf der Stelle zur Erde nieder, wo der Eingang war. Dort gräbt sie und kehrt den Sand zur Seite, und dorthin kehrt sie nach einigen kurzen Versuchen an anderen, nur wenige Zoll entfernten Punkten immer wieder zurück. Keine Untersuchung der Galerie, keine Sorge um die angstvoll sich krümmende Larve, deren zarte Haut aus dem milden Dunkel des Kellers so plötzlich in den glühenden Sonnenbrand versetzt wurde. Die Wespe beachtet sie sowenig wie irgendein auf dem Boden liegendes Steinchen oder Erdklümpchen. Diese zärtliche, treue Mutter, die sich abarbeitet, um zu der Wiege ihres Kindes zu gelangen, braucht in diesem Augenblick die Eingangsöffnung, die gewohnte Tür und nichts als die Tür. Nur die Sorge um den bekannten Durchgang versetzt ihre Muttergefühle in Aufregung. Und doch ist der Weg frei: Nichts hemmt die Mutter, vor deren Augen sich die Larve, das Endziel ihrer Unruhe, ängstlich abmüht. Mit einem einzigen Satz könnte sie bei dem unglücklichen Wurm sein, ihm eine neue Wohnung graben und ihn in Sicherheit bringen. Aber nein: Die Mutter bleibt starrköpfig beim Suchen nach einem nicht mehr vorhandenen Durchgang, während ihr Kind vor ihren Augen von den Sonnenstrahlen geröstet wird. Es kommt aber noch stärker. Nach langem Zögern wagt die Wespe sich endlich in die Rinne, den Rest des ursprünglichen Ganges, und gelangt zuletzt, vielleicht auch durch den Geruch der Fliegen, die sie früher in die Nische geschleppt hat, bis zu der Stelle, wo die Larve liegt. Hier ist nun die Mutter nach langem, angstvollem Suchen bei ihrem Kind, allein sie verrät keine Spur von Freude darüber oder bemüht sich nun eifrig um es. Die Kreiselwespe erkennt die Larve nicht wieder; die ist für sie ein wertloses Dng, das ihr nur hindernd im Weg liegt. Sie marschiert über den Wurm hinweg und tritt ihn bei ihrem hastigen Aus- und Eingehen schonungslos mit Füßen. Gegen eine so grobe Behandlung setzt sich die Larve zur Wehr: Ich habe sogar gesehen, wie eine die Mutter am Fuß packte, bis diese sich nach einem lebhaften Kampf von den scharfen Kiefern losmachte und forteilte. Eine solche widernatürliche Szene wird nur selten zu beobachten sein; in jedem solchen Fall aber kann man die vollständige Gleichgültigkeit des Hautflüglers gegen seine Nachkommenschaft wahrnehmen und die brutale Geringschätzung, mit der er das ihm hinderliche Würmchen behandelt.« Die Schlußfolgerung daraus: »Dieses Verhalten ist ledigliche eine Verkettung von Instinkthandlungen, deren eine die andere hervorruft, in einer Reihenfolge, die auch die schwerstwiegenden Umstände nicht umstoßen können. Die Kreiselwespe sucht nichts anderes als ihre Larve; um aber zu dieser zu kommen, muß sie in das Erdloch eindringen, und um in diese Galerie zu kommen, muß sie zuerst deren Eingang auffinden. Und auf der Suche nach dieser Tür bleibt die Mutter hartnäckig stehen, während vor ihr die Galerie völlig offen daliegt, samt dem Proviant, den sie eingetragen hat, und der Larve selbst. Ihre Handlungen sind einer Reihe von Echos vergleichbar, von denen eines das andere in einer bestimmten Reihenfolge hervorruft und von denen das folgende nicht ertönt, wenn das vorhergehende nicht gesprochen hat. (...) Welch einen Abgrund sehen wir da zwischen der Intelligenz und dem Instinkt klaffen! Mitten durch die Trümmer der in Ruinen liegenden Wohnstätte stürzt die von der Intelligenz geführte Mutter zu ihrem Kind hin - nur vom Instinkt geleitet, bleibt sie dagegen halsstarrig dort stehen, wo sich früher die Tür befand.«

Sinn

© 1995 Beltz Verlag, Weinheim