Knotenwespe

»Für jeden denkenden Menschen gibt es Bücher, die seinem Leben Richtung geben, weil sie ihm neue Horizonte öffnen. (...) An einem Abend im Winter, allein am Ofen, dessen Asche noch warm war - die Familie schlief schon -, vergaß ich beim Lesen die Sorge für den kommenden Tag, die düstere Sorge eines Physiklehrers, der, nachdem er ein Universitätsdiplom nach dem anderen erworben hat, und während eines Vierteljahrhunderts sich in seinem Beruf abgemüht und Verdienste erworben hatte, für sich und die Seinen ein Jahresgehalt von 1600 Francs erhielt, weniger als der Lohn eines Stallknechts in einem Herrenhaus. So wollte es die beschämende Knickrigkeit jener Epoche für alles, was den Unterricht betraf, so wollte es auch die Bürokratie. War ich doch einer außerhalb der gewöhnlichen Ordnung, einer, der sich selbst gebildet hatte. Inmitten meiner Bücher also vergaß ich das Elend meiner Professorenstelle, als mir eine entomologische Schrift in die Hände fiel, die, ich weiß nicht warum, sich unter meinem Lesestoff fand.« Es war ein Werk des damaligen Patriarchen der Insektenkunde Léon Dufour über die Lebensweise der Cerceris , der Knotenwespe. In ihrem unterirdischen Nest hatte Dufour kleine Käfer aus der Gattung Buprestis gefunden, Prachtkäfer. Die Wespe fängt sie als Nahrung für ihre Nachkommenschaft. Sie legt ihre Eier darauf ab, die ausgeschlüpften Maden verzehren den Käfer. Ausführlich schilderte der Artikel die Arbeitsweise der Wespe beim Nestbau. Betonte den »entomologischen Scharfblick«, mit dem die Wespe zwar unterschiedliche Käferarten von unterschiedlichem Aussehen jagt, die aber alle derselben Gattung angehören. Aufregung erfaßte den einsamen Leser. »Neue Erkenntnisse blitzten auf wie Offenbarungen. Hübsche Käfer in einer mit Kork tapezierten Schachtel zu schlichten, sie zu bestimmen und zu klassifizieren, das war also nicht die ganze Wissenschaft. Es gab etwas Größeres: die tiefergehende Erforschung des Aufbaus und vor allem der Eigenschaften der Tiere. Ich las da pochenden Herzens ein wunderbares Beispiel.«

Deutlich stellte sich das Rätsel: Die Käfer im unterirdischen Nest der Knotenwespe waren allem Anschein nach tot. Doch sie verwesten nicht. Über einen unwahrscheinlich langen Zeitraum blieb ihr Fleisch frisch, ihre gold- oder kupferglänzenden Flügeldecken intakt. Als Erklärung vermutete Dufour, daß das Gift der Wespe antiseptisch, konservierend wirken mußte. Der Physiklehrer schöpfte Verdacht. Alle vom Menschen erdachten, entdeckten Konservierungsmethoden veränderten das Nahrungsmittel radikal: pökeln, trocknen, in Öl einlegen, räuchern. Die Konserve der Raubwespe dagegen sollte durch einen Tropfen Gift unverweslich werden, frisch, unverändert, in den Gelenken beweglich bleiben. Er wollte selbst sehen, spähte nach einer Gelegenheit, die Arbeit der Knotenwespe zu beobachten. Er fand eine Verwandte des von Dufour beobachteten Prachtkäfertöters, die höckerige Knotenwespe , die ihre Larven mit Rüsselkäfern versorgt. Erstaunt entdeckte er, daß die Beobachtungen des Patriarchen unvollständig, oberflächlich waren. Die Käfer waren nicht tot. Sie entleerten ihren Darm. Ein paar Tropfen Benzin erregten das Nervensystem, so daß die Fühler zuckten. Voltaischer Strom ließ noch nach zehn Tagen die Muskeln sich zusammenziehen. Bei toten Käfern schon nach zwei Stunden nicht mehr. Die These Dufours war also nicht haltbar, war willkürlich. Er hatte »das Unbekannte der Erhaltung des Fleisches durch das Unbekannte der schützenden Flüssigkeit« ersetzt. Cerceris tötet ihre Beute nicht, sie lähmt sie. Die Maden finden frisches, lebendiges Fleisch vor, wenn sie schlüpfen. Aufgewühlt, begann der Forscher seinen Weg zu ahnen. Hier war ein weites Gebiet der Natur noch unerforscht, viel war zu überprüfen, richtigzustellen. Man hatte die Insekten gesammelt, klassifiziert, ihre Anatomie beschrieben. Ihr Verhalten, ihre Lebensweise war noch weitgehend unbekannt. Hier öffnete sich ein neues Feld, eine neue, von niemandem vermutete Wissenschaft war zu begründen. Weitere Fragen tauchten auf: Wie erreichte die Wespe die Lähmung? Durch ein besonderes Gift? Versuche brachten die Antwort: Ein kleinster Tropfen Salmiakgeist an der Spitze einer Stahlnadel brachte, an der richtigen Stelle eingestochen, dieselbe Wirkung hervor. Die Stelle der Verletzung war entscheidend: das Nervenzentrum, das Beine und Flügel erregt. Acht Arten von Cerceris gibt es, die Käfer jagen. Sieben Arten jagen Rüsselkäfer, eine Prachtkäfer. Nicht bei allen Käfern ist der Nervenknoten für den Wespenstachel erreichbar. Welche sind es? Bücher mußten gewälzt werden. Das Werk eines Spezialisten gab Auskunft. Es sind nur wenige Arten. Von diesen sind einige für die Wespe zu groß. Andere für die hungrige Made zu klein. Einige leben in Aas und Kot, von der Wespe gemiedenen Umgebungen. Nur Prachtkäfer und Rüsselkäfer bleiben übrig. Der Forscher verfaßte ein Memorandum, sandte es an die Universität. Seit der erregenden Lektüre am Kamin war noch kein Jahr vergangen, als es veröffentlicht wurde: »Beobachtungen über die Verhaltensweisen der Cerceris und über die Ursache der langen Konservierung der Coleopteren, mit denen sie ihre Larven versorgen«, Annalen der Naturwissenschaften, 4. Serie, 1855 . Sofort hatte er die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt. Dufour selbst schrieb, gratulierte zu der meisterlichen Art, in der er das Problem gelöst hatte. Darwin wurde aufmerksam, zitierte ihn in der »Entstehung der Arten«, nannte ihn den »unnachahmlichen Beobachter«. Das Institut de France verlieh ihm - 1856 - den Prix Montyon für experimentelle Physiologie.

Volksbildung

© 1995 Beltz Verlag, Weinheim