Kienspan

Der alte Mann hieß Jean-Henri Fabre. Er wurde geboren im Jahr 1823, drei Tage vor Weihnachten. Sein Geburtsort Saint-Léons-du-Levezou ist eine kleine Gemeinde im Rouergue, einer bergigen Landschaft im Süden Frankreichs, im Massif Central . Sein Vater war Antoine Fabre, Pflüger und Feldhüter, seine Mutter Victorine, geborene Salgues, Tochter des Gerichtsvollziehers von Saint-Léons. Die Gegend war arm. Die Leute da konnten sich nicht einmal Kerzen oder Lampenöl leisten, man verschaffte sich am Abend ein bißchen Licht von einem Kienspan. Mit einem Stück Schiefer wurde er in eine Mauerritze geklemmt. Im Winter schliefen sie im Stall, sparten Brennholz. Manchmal konnten sie durch den Sturm ganz nah die Wölfe heulen hören. »In meinem armen Heimatdorf mit dem rauhen Klima und dem kargen Boden, wie konnte man da sein Leben verdienen? Der Besitzer von einigen Morgen Grünland züchtet Schafe. In den fruchtbarsten Ecken seines Grundstücks kratzt er das Erdreich mit einem Pflug ohne Räder auf; terrassenförmig legt er Felder an, die von kleinen Steinmauern abgestützt werden. Körbeweise trägt der Esel Stallmist dort hinauf. Vortrefflich gedeiht fortan die Kartoffel, die, gargekocht und sehr heiß in einem geflochtenen Strohkörbchen serviert, das Hauptnahrungsmittel im Winter darstellt. Wenn die Ernte den Bedarf des Haushalts übersteigt, wird mit dem Überschuß ein Schwein gefüttert, dieses kostbare Tier, Schatz aus Speck und Schinken. Die Schafherde liefert Butter und dicke Milch; der Garten hat Kohl, Rüben und sogar ein paar Bienenstöcke in gut geschützten Winkeln. Mit solchen Reichtümern kann man der Zukunft ruhig entgegensehen. Aber wir, wir haben nichts, nichts als das Häuschen, ein Erbe der Mutter, mit einem kleinen Garten daneben.« Er verbrachte nur wenige Jahre in Saint-Léons. Als er kaum laufen konnte, wurde er zu den Großeltern gebracht. Der Weiler hieß Malaval, bestand aus zwei Höfen, voneinander noch durch einen Streifen Wald getrennt. Den einen bewirtschafteten die Eltern des Vaters. Kartoffeln, Roggen und Hafer konnten sie anbauen in dem kargen Hochland, ein paar Kühe, Schafe halten. Die Großmutter erzählte den Kindern Märchen, spann dabei. Aber andere Wunder beschäftigten den Kleinen mehr. Die Welt des Kindes waren die farnbestandenen Waldlichtungen, die Ginsterfelder, die brombeergesäumten Feldwege von Malaval. Schon »als kleines Kerlchen von sechs Jahren, noch im Kleidchen aus grobem Wollstoff«, faszinierten ihn die Flügel eines Schmetterlings, die glänzenden Deckflügel eines Mistkäfers. Es zog ihn »zu den Blumen, zu den Insekten, wie den Kohlweißling zum Kohl und den Fuchs« - nämlich den Schmetterling dieses Namens - »zu den Brennesseln« »Eines Tages, die Hände hinterm Rücken, stehe ich da, nachdenkliches Kerlchen, zur Sonne gewandt. Der blendende Schein fasziniert mich. Ich bin der Nachtfalter, den das Licht der Lampe anzieht. Ist es mit dem Mund, oder ist es mit den Augen, daß ich den strahlenden Glanz wahrnehme? Solcherart ist die Fragestellung meiner erwachenden wissenschaftlichen Neugier. Lache nicht, Leser: Der zukünftige Beobachter übt sich bereits, experimentiert. Ich öffne ganz weit den Mund und schließe die Augen. Der Glanz verschwindet. Ich öffne die Augen und der Glanz erscheint wieder. Ich beginne noch einmal. Selbes Ergebnis. Es ist geschafft: Ich weiß ganz sicher, daß ich die Sonne mit meinen Augen sehe. O schöne Erkenntnis! Am Abend teile ich sie dem Haushalt mit. Die Großmutter lächelt sanft über meine Naivität. Die anderen lachen. So geht die Welt.«

Kristalle

© 1995 Beltz Verlag, Weinheim