Daseinskampf

Am 24. November 1859 war in England ein Buch erschienen, in dem ein älterer Herr von einer Schiffsreise berichtete, die er in seiner Jugend unternommen hatte. In vierzehn Kapiteln stellte er dar, wie seine Beobachtungen von Tieren und Pflanzen rund um den Erdball, die er bei dieser Reise machen konnte, ein Licht auf die Entstehung der Arten zu werfen schienen. Nach der Rückkehr nach England hatte er zwanzig Jahre damit verbracht, Beweismaterial zu sammeln. Zuletzt war er zu dem Schluß gekommen, daß sich die Arten allmählich durch die Anhäufung von Variationen verändern, die ihren Besitzern die beste Chance bieten, im Kampf ums Dasein zu überleben, den alle Lebewesen durchzustehen haben. Die Bedeutung des Buches war vom Verleger gerade hoch genug eingeschätzt worden, um eine Auflage von 1250 Stück zu rechtfertigen. Tatsächlich aber rief Charles Darwins »Die Entstehung der Arten« eine stürmische Debatte hervor, die jahrzehntelang mit Leidenschaft und unter Aufbietung aller Mittel, wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher, geführt werden sollte. Unter den Beweismaterialien, die der Autor gesammelt hatte, fand sich auch ein Zitat des kleinen provenzalischen Gelehrten, der das Rätsel der Knotenwespe aufgelöst hatte. Der jedoch blieb zeitlebens ein Gegner von Darwins Theorie. Seine Forschungen taten ihm eine Welt von solcher Vollkommenheit auf, enthüllten ihm so unglaubliche Übereinstimmungen zwischen den Anforderungen des Lebens und den Fähigkeiten und Leistungen der Wesen, die er studierte: Eine Entstehung durch Zufall, durch langsam angehäufte Veränderungen, die vom weniger Vollkommenen zum Vollkommenen führen sollten, schien da ganz ausgeschlossen. Wie hätte denn die erste Wespe, die ihre Nachkommen mit dem Engerling des Rosenkäfers versorgte, Abkömmlinge hinterlassen können, wenn nicht die Larve von Anfang an die Fähigkeit gehabt hätte, den Engerling in der richtigen Weise zu verzehren und keinen Fehler zu machen. Hatten nicht alle seine Versuche gezeigt, wie der kleinste Fehler unausweichlich mit dem vorzeitigen Tod der Beute und damit dem Tod der Larve endet? Die Kunstfertigkeit, den Engerling zu verzehren, mußte von Anfang an voll ausgebildet gewesen sein, eine Larve, die diese Kunst nur unvollständig beherrschte, mußte zugrunde gehen. Das gleiche galt für die Jägerinnen. Jede Art hat ihre Taktik, die genau dem Aufbau ihrer Beute entspricht. Die eine sticht nur einmal in das entscheidende Nervenzentrum, die andere muß mehrere Nervenknoten lähmen, die dritte zuerst die Beißwerkzeuge des Opfers ausschalten. »Die auf Raub ausziehenden Knotenwespen richten sich bei der Wahl ihrer Opfer nach dem, was allein die gelehrteste Physiologie und die feinste Anatomie zu lehren vermöchten. Vergeblich wäre das Bemühen, darin nichts als ein Zusammentreffen von Zufälligkeiten erblicken zu wollen: durch den Zufall lassen sich solche Übereinstimmungen nimmermehr erklären.« Schöpfermacht Daß durch Abwandlung und Umformung eine Art aus der anderen hervorgehen sollte, war ihm unvorstellbar. »Die Schöpfermacht legt die alten, verbrauchten Formen zum alten Eisen und ersetzt sie durch frische, die sie mit neuem Aufwand gebildet und nach aus ihrer nie versiegenden Fülle geschöpften Mustern gefertigt hat. Ihre Werkstatt ist nicht der Trödelmarkt, auf dem der Lebende den abgelegten Rock des Gestorbenen anlegt, sondern eine Künstlerwerkstatt, aus der neugegossene Medaillen mit einer neuen, eigenen Prägung hervorgehen. Ihr Formenreichtum ist von unbegrenzter Fülle; eine knauserige Sparsamkeit, die das Alte zu etwas Neuem zurechtstutzt, kennt sie nicht. Die ausgebrauchte Form wird zerschlagen und nicht nachträglich zu erbärmlichen ›Nachgüssen‹ verwendet.« War der Alte von Serignan also ein engstirniger Konservativer, der an überholten Ansichten festhielt? Wohl kaum. Die Lehre des Engländers war noch voller Lücken. Sie besagte, daß die Entwicklung dadurch vorangetrieben wurde, daß die für einen bestimmten Lebensraum Geeignetsten durch »natürliche Zuchtwahl« zur Fortpflanzung gelangten. Wie aber die Varianten zustande kamen, aus denen eine Wahl möglich war, wußte noch niemand. Die Entdeckungen Gregor Mendels, die dieser schon 1866 veröffentlicht hatte, wurden erst um 1900 von der wissenschaftlichen Welt wahrgenommen. Mendels Beobachtungen zeigten ja erst, daß einzelne Erbeigenschaften gesondert, sozusagen in Partikeln weitergegeben werden und daß in einem Einzelwesen verschiedene solcher Erbeigenschaften schlummern und von ihm weitervererbt werden können, obwohl sie in diesem Einzelwesen gar nicht zum Ausdruck kommen. Das gab überhaupt erst eine Vorstellung davon, wie die Varianten entstehen, aus denen die Züchterin Natur ihre Wahl treffen kann. Der Begriff des »Gens« wurde dann erst möglich. Der Schöpfer der Theorie von der natürlichen Zuchtwahl selbst wurde immer wieder unsicher. Nicht in seinen Grundanschauungen. Doch hatte er etwa früher Vorstellungen seines Vorläufers, des Chevaliers de Lamarck , daß Lebewesen in ihrer Lebenszeit erworbene Eigenschaften an ihre Nachkommen weitervererben könnten, als »sehr dumm« abgetan. In späteren Ausgaben seines Werkes aber füllte er Lücken in seinem Beweismaterial mit der Annahme aus, daß unter gewissen Umständen erworbene Eigenschaften erblich sein könnten. Meist ist es aber genau diese heute als endgültig widerlegt geltende Annahme, gegen die sich die Argumente des Verfassers der »Souvenirs« richten. Der Zikade, die unermüdlich ihre Eier legt, während gleich hinter ihr eine parasitische Zehrwespe darauf wartet, ihr eigenes winziges Ei in das der Zikade zu legen, rief er zu: »Die Erfahrung von Jahrhunderten hat dich also nicht klüger gemacht, du beklagenswerte Eierlegerin. Mit deinen ausgezeichneten Augen mußt du notwendigerweise diese furchtbaren Zehrwespen wahrnehmen, wenn sie um dich herumfliegen und ihren verderblichen Stich vorbereiten; du siehst sie, du weißt, daß sie dir auf den Fersen sitzen, und bleibst dennoch unempfindlich dagegen und läßt sie gewähren. So drehe dich bloß um, du gutmütiges Riesentier, und zermalme diese Pygmäen! Doch du wirst niemals dergleichen tun, weil du unfähig bist, deine Instinkte abzuändern, nicht einmal, wenn es sich darum handelt, dein Teil mütterlichen Leides zu vermindern.« Wenn die Spinnen jagende Wegwespe eine Kreuzspinne auf den Rücken geworfen hat, stellt die Spinne sich tot. Genau dieses Totstellen benutzt die Wespe, um die Spinne wehrlos zu machen. Sie sticht als erstes in den Mund der Spinne, setzt so deren Gifthaken außer Gefecht. Dann erst bohrt sie den Stachel in die Brust der Spinne, um die Beine zu lähmen. »Ach ihr Kreuzspinnen, die ihr ohne Falsch seid: Man sagt, der Kampf ums Dasein habe euch angeraten, zu eurer Verteidigung diese scheinbar leblose Haltung anzunehmen. Dann ist aber der Kampf ums Dasein ein sehr schlechter Ratgeber gewesen. Glaubt lieber dem gesunden Menschenverstand und lernt allmählich durch eigenen Schaden, daß der lebhafte Gegenstoß, zumal wenn ihn die Mittel erlauben, immer noch das beste Mittel ist, den Feind in Respekt zu halten.« Alle seine Versuche hatten bewiesen, daß die Instinkthandlungen - ob einfach oder kompliziert - nicht erlernt werden, daß das Tier keinerlei Erfahrung benötigt, um sich »richtig« zu verhalten. Da die Tiere keine Erfahrungen sammelten, konnten sie auch keine weitergeben. Und damit hatte er allerdings recht. Der zutiefst Gläubige gehörte aber nicht zu jenen, die den »Transformismus«, wie die Darwinsche Theorie damals genannte wurde, mit den Argumenten der Bibel bekämpften. Auch hier ließ er nur wissenschaftliche Gründe gelten. Es war die Größe dessen, was er täglich beobachtete und beschrieb, was ihn an eine Schöpfermacht glauben ließ und ihm die Entstehung durch zufällige kleine Veränderungen so unwahrscheinlich machte. Seine Gegengründe waren schwerwiegende Herausforderungen für die Lehre von der Evolution. Bis heute kann der Darwinismus höchstens annähernd skizzieren, wie etwas so Komplexes wie beispielsweise der Ameisenstaat Schritt für Schritt entstanden sein mag.

Tatsachen

© 1995 Beltz Verlag, Weinheim