Erde

Der Planet wird von Insekten bewohnt. Eine Million Arten oder mehr haben ihn unter sich aufgeteilt, haben eine Million Lebensräume darin gefunden. Haben Wasser, Erde, Luft besiedelt. Weiden, jagen, sammeln, leben als Parasiten auf dem Körper, im Körper anderer Tiere, anderer Insekten. Leben einzeln für sich, paarweise, in kleinen Gruppen, in riesigen, gleichförmigen Schwärmen, in verwickelt zusammengesetzten Staaten. Bauen Nester aus Steinen, Sand, Nadeln, Wachs, Karton, Holz, Blättern, Speichel, Luft. Bringen Pflanzen dazu, fremde Gebilde hervorzubringen, nicht Frucht, nicht Blatt - »Früchte«, die als Samen die Brut der Insekten tragen. Schaffen sich künstliche Körper aus Sand, aus Nadeln, aus Ästchen. Sie verwandeln sich, leben zwei Leben, manche noch mehr. Einmal als Fresser, Aufspeicherer von Energievorräten, oft langsam, faul, in paradiesischer Überfülle »wie die Made im Speck«, von den Eltern mit allem versorgt, im geschützten, gut verschlossenen Nest, in einer Frucht, in einem Kadaver, unter der Erde, im Innern von Bäumen, in einer Kugel aus Kot. Oder auch als hilfloser Säugling, gefüttert, gereinigt, ins Warme, ins Kühle getragen, umsorgt und beschützt. Oder als gefräßiger, räuberischer Jäger, listig, hungrig. Dann ein zweites Leben, meist in ganz anderer Gestalt, mit anderem Stoffwechsel, anderer Nahrung, auch ohne Nahrung. Die Nahrung dient nicht mehr dem Aufbau des eigenen Körpers. Jetzt meist geflügelt, beweglich, braucht das Insekt Energie für die Suche nach dem Fortpflanzungspartner, nach dem günstigsten Ort für die Eiablage, für den Nestbau, die Versorgung der Brut mit Vorräten. Manche überdauern Jahre, vor allem als Larven, manche nur Stunden. Manche verstehen es zu erstarren, Kälte, Trockenheit zu überdauern. Andere begehen, wenn der Winter kommt, massenhaft Selbstmord, fressen die Eier auf, rotten die Maden aus, hungern sich dann zu Tode. Manche werden, wenn die Brut versorgt ist, zu Kannibalen, rotten sich gegenseitig aus. Männchen werden nach der Begattung aus dem Stock geworfen, werden während der Begattung aufgefressen. Weibchen sterben im Moment der Eiablage, dienen den eigenen Maden als erste Nahrung. Insekten befruchten Blütenpflanzen, fressen Landstriche kahl, säubern den Boden des Planeten von Kot und Kadavern, verbreiten Seuchen, dienen Vögeln, Fischen, Säugern, Spinnen und anderen als Nahrung. Die Tiere des Planeten folgen zwei großen Entwicklunglinien: Wirbeltiere und Wirbellose. Die Insekten sind der vorläufige Höhepukt der Entwicklungslinie der Wirbellosen. An der vorläufigen Spitze der anderen Linie steht ein Tier, dessen Individuenanzahl vielleicht ein Hundertmillionstel der Insekten ausmacht. Selbst sein Anteil an der Biomasse des Planeten ist kleiner. Von den Insekten unterscheidet sich dieses Tier fast so sehr wie von den Pflanzen. Die gemeinsamen Vorfahren liegen ganz am Anfang auf dem Stammbaum des Lebens, irgendwo bei den ersten mehrzelligen Organismen. Keine zwei Tiergruppen auf dem Planeten könnten einander fremder sein.

Kienspan

© 1995 Beltz Verlag, Weinheim